Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Im exklusiven Gastbeitrag für watson erklärt er, was hinter dem Vorschlag des US-Präsidenten steckt, das Impfpatent auszusetzen.
Die amerikanische Regierung unterstützt das Vorhaben, den Patentschutz für Impfstoffe gegen Covid-19 auszusetzen. Das ist insbesondere für die mRNA-Stoffe prekär, weil alleine amerikanische und europäische Firmen die Patente halten. Der russische Präsident, der die Aussetzung der Patente ebenfalls unterstützt, lobte zwar die eigenen Impfstoffe – sie seien "so einfach und zuverlässig wie ein Kalaschnikow-Sturmgewehr" – doch würde seine Regierung ebenso wie die chinesische den erzwungenen Wissenstransfer begierig begrüßen.
Leer gingen die Hacker aus, die seit Monaten versuchen, an Daten zu diesen neuen Impfstoffen zu gelangen. Ihre Aufgabe hätte Joe Biden übernommen. Und China würde kopieren und produzieren.
Warum entschied Biden so? Es sind vor allem Innen- und Parteipolitik, die ihn dazu animierten. Biden will die USA in den nächsten Monaten sozialpolitisch umzukrempeln. Nach der Ankündigung seiner drei „Build Back Better“-Gesetzesvorhaben, zusammen 6 Billionen US-Dollar schwer, akzeptiert er jetzt auch den staatlichen Zugriff auf die amerikanische Pharmaindustrie, der von der Linken vehement eingefordert wird.
Er braucht für seine Vorhaben ihre Stimmen im Kongress. Dafür geht er sogar von seiner außenpolitischen Doktrin ab, dass alle Maßnahmen dem amerikanischen Mittelstand wirtschaftlich helfen müssen. Die Freigabe der Patente würde jahrzehntelange Forschung chinesischen Produzenten auf dem Silbertablett präsentieren. Die Arbeitsplätze in den USA wären weg.
Der Entscheidung gingen intensive Auseinandersetzungen in der Administration Biden voraus. Druck übten etwa 100 Abgeordnete aus, die sich für eine Freigabe der Patente aussprachen. Unterstützung bekamen sie von prominenten progressiven Senatoren, allen voran Bernie Sanders und Elizabeth Warren. In beiden Häusern ist Bidens Mehrheit hauchdünn. Schließlich zeigten sich enge Mitarbeiter Bidens offen für diese Maßnahme.
Entschieden wurde in einem kleinen Kreis: Präsident Biden, sein nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan, die Handelsbeauftragte Katherine Tai, der Koordinator für die Corona-Politik Jeff Zients und der stellvertretende Stabschef Bruce Reed waren als letzte im Raum. Handelsministerin Gina Raimondo hatte man ausgeschlossen, weil sie gegen die Freigabe war. Damit ist diese Entscheidung das erste Anzeichen für die ebenso üblichen wie gefährlichen Entwicklungen in politischen Entscheidungsprozessen: Alternativen werden aus dem Raum verbannt. Gruppendenken setzt ein. Die Zugehörigkeit zum Zirkel der Macht geht über die Sache.
Insbesondere die beiden für Handel zuständigen Beraterinnen Tai und Raimondo nahmen im Vorfeld unterschiedliche Positionen ein. Antony Fauci soll Tai in den letzten Wochen überzeugt haben, die Patente freizugeben. Sein Hauptargument soll dabei gewesen sein, dass der Impfstoff dann in den betroffenen Ländern – Indien, Südafrika – schneller hergestellt werden kann.
Die Befürworter der Freigabe fordern deshalb, dass die Hersteller verpflichtet werden sollen, andere Unternehmen beim Aufbau der Herstellung zu unterstützen. Damit, so lautet das Argument der pharmazeutischen Industrie, würden nicht nur der Forschungsvorsprung der USA und auch der EU verlorenen gehen, sondern auch jeder Anreiz entfallen, hohe Summen in innovative Forschung zu investieren. Niemand, so lautet die Warnung kompakt, wird sich dann auf Covid-20 vorbereiten, weil es betriebswirtschaftlich nicht zu verantworten sei.
Deshalb werden die Regierungen, die sich einem Einvernehmen in der WHO entgegenstellen, zukünftig damit werben können, dass bei ihr pharmazeutische Forschung gefördert und geistiges Eigentum geschützt ist. Die EU-Staaten haben von Beginn an nicht nur die internationale Impfallianz finanziell unterstützt, sondern auch Impfstoff exportiert. Corona eröffnet der früheren "Apotheke der Welt" die Möglichkeit, pharmazeutische Forschung und Produktion zurückzuholen, wenn sie sich jetzt für Patentschutz starkmachen.
Denn ob durch die Patentfreigabe kurz- und mittelfristig mehr Impfstoff hergestellt werden kann, wird in der Debatte unterschiedlich bewertet. Es fällt auf, dass die Politik zur Ansicht tendiert, dass auf diese Weise schneller mehr Impfstoff verfügbar sein wird, während die Pharmawirtschaft dies in Abrede stellt. Ron Klain, Bidens Stabschef jedenfalls erklärte, dass Patente zwar eine Hürde seien, das größere Problem aber darin bestehe, den Impfstoff wirklich herstellen zu können. Gerade die mRNA-Impfstoffe erforderten Anlagen, Vorstoffe und Kenntnisse, die nicht kurzfristig zur Verfügung stünden. Deshalb regte die amerikanische Pharmaindustrie an, die bestehenden Herstellungsprozesse auszuweiten.
Außenpolitisch ist der Positionswechsel der USA ein Donnerschlag in der seit Monaten anschwellenden Impfdiplomatie. Denn damit setzen die USA nun China unter Druck, das bisher chinesische Impfdosen an andere Regierungen lieferte, während die amerikanische Regierung die Impfquote im eigenen Land über Exporte stellte. Außenminister Blinken wurde schon vor Wochen in liberalen Fernsehformaten gefragt, wann denn amerikanischer Impfstoff endlich exportiert werde.
Dabei ist dies ist nicht das erste Mal, dass über Patente gestritten wird. Bei HIV gab es schon erbitterten Streit zwischen Südafrika und den USA. Außerdem muss der Schutz geistigen Eigentums zukünftig ja nicht auf Gesundheit beschränkt bleiben, sondern könnte nach der Pandemie auch Fragen von Ernährungssicherheit, Saatgut und Düngemittel betreffen. Warum sollen denn dort Patente geschützt bleiben, wenn Millionen Menschen hungern?
Für Präsident Biden persönlich ist der Schritt, die Freigabe von Patenten zu unterstützen, äußerst gewagt. Derzeit unterstützen ihn zwei Drittel der Amerikaner als Person. Über seine Politik hingegen ist das Land tief gespalten. Sein Versprechen, die widerstreitenden Lager aus Republikanern und Demokraten zu versöhnen, hat er aus Sicht vieler moderater Republikaner gebrochen, weil er zunehmend linke Positionen vertritt. So auch hier. Biden regiert, wie Bernie Sanders regiert hätte. So droht ihm 2022 der Verlust der Mehrheit in der Legislative.