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Afghanistan: Ex-Bürgermeisterin Zarifa Ghafari über Frauenrechte und "Taliban 2.0"

October 14, 2021, London, UK: File photo dated 12/09/21 of people at an Afghan solidarity rally in Trafalgar Square, London, to oppose the Taliban. Many Afghan women could die because of Taliban gende ...
Afghanische Frauen demonstrieren in Indien für Frauenrechte in Afghanistan.Bild: www.imago-images.de / Yui Mok
Gastbeitrag

Afghanistan-Konflikt: "Die Taliban 2.0 werden die Schlimmsten sein"

Vor knapp vier Monaten haben die islamistischen Taliban Afghanistan eingenommen. Noch immer warten Tausende afghanische Ortskräfte und ihre Familien auf eine Ausreise nach Deutschland. Frauenrechte werden mit Füßen getreten, viele Frauen ermordet. "Frauen auf der ganzen Welt sollten ihre Stimme erheben!", schreibt die afghanische Ex-Bürgermeisterin Zarifa Ghafari in ihrem Gastbeitrag für watson.
08.12.2021, 13:0209.12.2021, 16:04
Zarifa Ghafari
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Fast vier Monate nach der unrechtmäßigen Machtergreifung der Taliban steht Afghanistan am Rande des Abgrunds.

Die Vereinten Nationen haben bereits gewarnt, dass Afghanistan kurz vor einer der schlimmsten humanitären Krisen der Welt steht. Dass dieser äußerst instabile Zustand durch die strategischen und operativen Fehltritte der größten globalen Militärmacht der Welt, also der USA, geschaffen wurde, macht diese Entwicklung zu einem viel größeren Risiko – für die Amerikaner selbst und ihre Verbündeten und Partner.

"Die Taliban bauen ein Narrativ der 'gemäßigten Taliban' auf, um in der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden"

Seit dem Abzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan bauen die Taliban ein Narrativ der "gemäßigten Taliban" auf, um von der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden. Die Botschaften konzentrieren sich auf Amnestie – also einer allgemeinen Begnadigung – Versöhnung der Gemeinschaft, Stabilität und Wiederaufbau.

Tausende Ortskräfte hoffen auf Rettung
Knapp vier Monate nach der Machtübernahme der Taliban warten immer noch Tausende afghanische Ortskräfte und ihre Familien auf eine Ausreise nach Deutschland.

Bei knapp 25.000 Aufnahmezusagen seien bisher 7033 Personen nach Deutschland gelangt, berichtete die Funke Mediengruppe (Mittwoch) unter Berufung auf eine Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.

Danach haben deutsche Behörden zwischen dem 15. Mai und dem 26. November 24.556 Menschen aus Afghanistan eine Aufnahme zugesagt. Bisher seien 1319 Ortskräfte mit 5711 Angehörigen nach Deutschland gekommen.

"Wie viele Ortskräfte und deren Familienangehörige mit einer Aufnahmezusage Afghanistan mithilfe deutscher Stellen verlassen haben, kann nicht beziffert werden", teilt das Innenministerium dem Bericht zufolge mit.
dpa

Die Taliban-Sprecher hatten eine Reihe von Erklärungen abgegeben, die auf die Bildung einer "inklusiven" Regierung hinwiesen.

Diese Maske der Taliban ist jedoch verschwunden.

Die Islamisten haben eine schockierend ethnische, rein männliche Regierung gebildet, die alles andere als integrativ ist.

Viele ihrer Mitglieder stehen auf der weltweiten Terroristenliste der Vereinten Nationen. Darüber hinaus gab es Berichte über eskalierende Gewalt, schwere Menschenrechtsverletzungen sowie vergeltende und ethnische Tötungen. Es wird langsam deutlich, dass die Taliban 2.0 die Schlimmsten sein werden, da ihr Weltbild unverändert bleibt und in mittelalterlichen Ideologien verwurzelt ist.

"Das illegitime Regime hat bereits jetzt Frauen ihrer Grundrechte beraubt und ihr Land inmitten eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs noch tiefer in Armut und Hunger gestürzt"

Das sieht man vor allem in der entscheidenden Frage der Frauenrechte. Bei der ersten Taliban-Pressekonferenz, nachdem die Gruppe die Kontrolle über die afghanische Hauptstadt Kabul wiedererlangt hatte, versuchte Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid, die Frauen zu beruhigen. "Unsere Schwestern, unsere Männer haben die gleichen Rechte", hatte er gesagt. Offiziell betonen Taliban-Führer in diesen Gesprächen, dass sie Frauenrechte "nach dem Islam" gewähren wollen.

Die Islamisten schafften aber das Frauenministerium umgehend ab, was den Frauen im Land einen schwierigen Weg bereitet. Die neue Regierung der Taliban besteht ausschließlich aus Männern und besteht hauptsächlich aus Mullahs, also islamischen Rechts- und Religionsgelehrten.

Auch im Bildungsministerium fehlen weibliche Fachkräfte. Das Hochschulministerium der Taliban konsultierte nur männliche Lehrer und Studenten zur Wiederaufnahme der Funktion der Universitäten. Das illegitime Regime hat bereits jetzt Frauen ihrer Grundrechte beraubt und ihr Land inmitten eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs noch tiefer in Armut und Hunger gestürzt.

Aktuell, 26.08.2021, Duesseldorf, Zarifa Ghafari Buergermeisterin von Maidan Shahr im Portrait und ihrer Hand an ihrem Kopftuch beim Pressestatement im Vorfeld an den Roundtable zur Lage der Frauen in ...
Zarifa Ghafari musste nach der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan fliehen.Bild: Flashpic / Jens Krick
Bürgermeisterin, Frauenrechtlerin, Geflüchtete
Zarifa Ghafari ist afghanische Kommunalpolitikerin.

Im Sommer 2018 wurde sie zur Bürgermeisterin von Maidan Shahr, einer Kleinstadt mit 35.000 Einwohnern in Afghanistan und Hauptstadt der afghanischen Provinz Wardak, gewählt.

Mit 26 Jahren war sie bei ihrer Ernennung die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans und eines von nur wenigen weiblichen Stadtoberhäuptern in dem Land.

Sie war schon vor Ihrer Wahl als Frauenrechtlerin bekannt.

Als die Taliban im Sommer dieses Jahres Afghanistan komplett eingenommen hatten, musste Ghafari aus Afghanistan fliehen. Sie lebt seither in Deutschland.
jor

Taliban haben Schulmädchen, Polizistinnen und Frauen in der Regierung getötet. Die Familienangehörigen haben große Angst vor Vergeltungsmorden oder Folter durch die Taliban. In einigen Provinzen wird den Frauen gesagt, dass sie nicht ohne einen männlichen Verwandten zur Arbeit kommen oder ihr Zuhause nicht verlassen sollen.

Frauenschutzzentren werden angegriffen und die Menschen, die dort arbeiten, schikaniert. Schutzhäuser für Menschenrechtsverteidigerinnen, darunter Aktivistinnen und Journalistinnen, sind ausgebucht.

Afghanische Frauen kennen die Geschichte der Taliban nur zu gut. Die Taliban regierten von 1996 bis 2001 ganz Afghanistan. Jeder sah sich im Rahmen seiner konservativen Auslegung des Islam mit Einschränkungen konfrontiert, am stärksten jedoch die Frauen.

Sie durften ihr Zuhause nicht ohne einen männlichen Vormund verlassen und mussten ihren Körper von Kopf bis Fuß mit einem langen Gewand namens Burka bedecken. Sie konnten weder Gesundheitszentren besuchen, noch zur Schule gehen oder arbeiten.

INDIA-AFGHANISTAN-PROTEST An Afghan national residing in India holds a placard as she participates in a protest demanding better rights for women in Afghanistan, during a demonstration in New Delhi, I ...
"Afghan women's lives are in danger" steht auf einem Plakat einer afghanischen Frauenrechtsaktivistin.Bild: www.imago-images.de / Mayank Makhija

Der Human-Rights-Watch-Report 2010 zeigt deutlich, dass sich die Ideologie der Taliban auch in der Zeit nach 2001 nicht verändert hat. Darin heißt es: In Gebieten, die sie kontrollieren oder beeinflussen, haben die Taliban Frauen im öffentlichen Leben und gewöhnliche Frauen, die außerhalb ihres Zuhauses arbeiten, bedroht und angegriffen.

Daher ist es zwingend erforderlich, alle Erklärungen der Taliban-Führer auf internationaler Ebene zu ihrem Engagement für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter anhand ihres Handelns und nicht nur anhand von Rhetorik zu beurteilen.

Obwohl die Situation für Frauen und Mädchen im Land düster ist, sehen wir weiterhin, dass Frauen für ihre Rechte kämpfen und Gleichberechtigung fordern. Das hat sich nicht geändert und wird sich auch nicht ändern.

"Afghanische Frauen kämpfen seit Jahrhunderten an vorderster Front für ihre Rechte"

Afghanische Frauen kämpfen seit Jahrhunderten an vorderster Front für ihre Rechte. Frauen gehen auf die Straße und protestieren, auch angesichts der Gewalt der Taliban und der Versuche, Proteste zu verbieten. Frauen haben nun in den sozialen Medien gegen die harte Politik der Taliban ihnen gegenüber protestiert.

Im Rahmen einer Online-Kampagne haben afghanische Frauen auf der ganzen Welt Fotos von sich selbst in traditioneller farbenfroher Kleidung unter dem Hashtag #DoNotTouchMyClothes geteilt.

Die Gleichstellung der Geschlechter ist zwar kein Grundrecht, aber eine notwendige Grundlage für eine friedliche, wohlhabende und nachhaltige Welt. Auch wenn heute mehr Frauen in Führungspositionen tätig sind, sind sie noch immer unterrepräsentiert.

Die Stimmen afghanischer Frauen sollten gehört werden. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen sagte, dass der Wegfall der bezahlten Beschäftigung von Frauen das Bruttoinlandsprodukt um bis zu fünf Prozent senken könnte. Außerdem heißt es, die Arbeitsplätze der Frauen seien "wichtig, um die wirtschaftliche Katastrophe zu mildern".

Heiko Maas R, Bundesaussenminister, trifft Zarifa Ghafari L, Frauenrechtlerin und Buergermeisterin in Afghanistan, zu einem Gespraech in Berlin, 27.08.2021. Berlin Germany *** Heiko Maas R , German Fo ...
Kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland traf sich Zarifa Ghafari mit dem damaligen SPD-Außenminister Heiko Maas.Bild: www.imago-images.de / Florian Gaertner/photothek.de

Hinzu kommt ein Konsumverlust – Frauen, die nicht mehr arbeiten, haben kein Gehalt mehr und können nicht mehr so viel kaufen wie zuvor, um ihre Familien zu ernähren oder auszustatten. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen könnte sich der Verlust auf 500 Millionen Dollar pro Jahr belaufen. Afghanistan "kann es sich nicht leisten, darauf zu verzichten".

Wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sagte, muss die internationale Gemeinschaft zu ihrem langfristigen Engagement zur Unterstützung der Frauenrechte in Afghanistan stehen.

Frauen auf der ganzen Welt sollten ihre Stimme erheben! Es ist so wichtig, sich gegenseitig zu unterstützen. Es geht um Menschlichkeit. Es geht um eine gemeinsame Welt.

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Nach bald drei Jahren hat die Ukraine kaum noch Optionen, um den Krieg gegen Aggressor Russland militärisch zu gewinnen. Besiegt ist das geschundene Land deswegen aber nicht.

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