Thomas Jäger ist Professor für internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Im exklusiven Gastbeitrag für watson erklärt er den komplizierten Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern.
Wenn die eine Seite mit Raketen schießt und die andere mit Raketen antwortet, scheint alles ganz einfach. Aber die Lage, die im Nahen Osten erneut Gewalt ausbrechen ließ, ist kompliziert. Und sie kann, wenn sich weitere Staaten engagieren, noch vertrackter werden. In drei Konfliktkreisen eskalierte in den vergangenen Tagen die Gewalt:
Ein Prozess um Land in Ost-Jerusalem sollte nun mit der Zwangsräumung der palästinensischen Bewohner enden. Seit Tagen brodelt es deswegen und der Protest eskalierte, als israelische Sicherheitskräfte und Palästinenser aufeinander losgingen. Beide Seiten sagen, die andere habe angefangen.
Diese Lage wollte die Hamas, eine islamistische Organisation, die Gaza regiert, nutzen, um sich an die Spitze der palästinensischen Proteste zu setzen. Ausstechen wollte sie damit die Fatah, die zweite große palästinensische Partei, die den Protest nicht kanalisieren konnte. Deshalb beschoss die Hamas Israel mit Raketen.
Die israelische Regierung musste militärisch reagieren. Mit ihrer Raketenabwehr Iron Dome konnten die Streitkräfte 90 Prozent der anfliegenden Raketen zerstören und gleichzeitig selbst Ziele in Gaza angreifen. Der israelische Ministerpräsident, der politisch unter Druck und zudem wegen Korruption, Betrug und Untreue unter Anklage steht, kann sich kurzfristig aus diesen Zwängen befreien. Auf diese Angriffe Israels antwortete die Hamas mit weiterem Raketenbeschuss.
Dass der Konflikt nun militärisch ausbrach, hat aber auch damit zu tun, dass derzeit niemand die Parteien davon abhält. Die Regierung von Donald Trump hatte einen sehr engen Draht zur israelischen Regierung. 2017 erkannte Trump Jerusalem als Hauptstadt Israels an (andere Staaten lehnen dies ab, weil Israel Ost-Jerusalem 1967 annektiert hat) und verlegte die Botschaft dorthin. Die USA bahnten Friedensverträge mit vier arabischen Staaten an, obwohl alle arabischen Staaten zuletzt 2002 vereinbarten, dies erst zu tun, wenn es einen Staat Palästina gibt. Die Palästinenser waren isoliert, zerstritten und ihr großes Ziel, einen eigenen Staat zu gründen, schien unerreichbar.
Die Regierung von Joe Biden ging auf Distanz zu Israel (so, wie Obama es schon tat), indem sie das Nuklearabkommen mit Iran wiederbeleben wollen. Das hatte Israel mit aller Macht zu verhindern versucht. Aber darüber hinaus hat Biden noch keine Idee, welche Politik er im Nahen Osten verfolgen wird. Das ist angesichts von Pandemie und Arbeitslosigkeit schlicht weniger wichtig für ihn. So forderte die amerikanische Regierung beide Seiten auf, die Gewalt einzustellen, betonte aber das Recht Israels auf Selbstverteidigung.
Biden hat aber noch ein größeres Problem. Er verfügt im Repräsentantenhaus nur über eine knappe Mehrheit von 6 Stimmen und inzwischen mehren sich die Rufe aus der demokratischen Fraktion, die Unterstützung Israels einzustellen und den Palästinensern zu helfen. Israel verletze die Menschenrechte und internationales Recht, halten sie Biden vor. Das schränkt seinen Handlungsspielraum in dem Konflikt ein, weil er auf seine Mehrheit im Parlament achten muss.
Bisher war es so: Wenn die USA sich im Nahost-Konflikt nicht stark engagieren, sind beide Seiten nicht nur zur Gewaltanwendung fähig, sondern werden davon auch nicht abgehalten. Die Palästinenser können die hochgerüstete Nuklearmacht Israel militärisch nicht überwinden. Aber Israel könnte die mit allen greifbaren Waffen kämpfenden Palästinenser auch nicht besiegen.
Es braucht eine politische Lösung, die lange in der Zwei-Staaten-Lösung gesehen wurde. Land gegen Frieden bedeutet, dass Israel besetzte Gebiete freigibt, ein palästinensischer Staat gegründet wird und beide Seiten der Gewalt gegeneinander abschwören. Aber diese Lösung liegt in weiter Ferne, seit die USA unter Trump diejenigen in Israel unterstützten, die keinen Staat der Palästinenser dulden wollen. Niemand kann derzeit gegen Israel eine Zwei-Staaten-Lösung durchsetzen.
Die zweite internationale Ordnungsmacht, China, ist stärker im Mittleren Osten engagiert, seit dieser auf ihrer Neuen Seidenstraße wirtschaftlich und politisch bedeutsam ist. Außenminister Wang Yi besuchte erst im März 2021 sechs Staaten der Region (unter anderem Saudi-Arabien, den Iran und die Türkei) und schlug im Rahmen einer regionalen Friedensinitiative vor, Gespräche zwischen Israel und den Palästinensern zu vermitteln.
Während die USA am Mittleren Osten weniger interessiert sind, seit sie auf das Öl aus der Region verzichten können, bleibt China auf die Erdöllieferungen angewiesen. China unterstützte – als Fürsprecher des globalen Südens – schon lange die Forderungen der Palästinenser nach einem eigenen Staat und hat seit 1992 mit Israel diplomatische Beziehungen. Zu einer kraftvollen Vermittlung aber fehlen die Ansatzpunkte.
Die hat auch die EU nicht, die inzwischen ohne jeden Einfluss im Nahen und Mittleren Osten den Entwicklungen nur zuschauen kann. Handlungsmächtiger ist da Russland, dessen Außenminister ebenfalls im März drei arabische Staaten – darunter Saudi-Arabien – besuchte. Russlands Regierung reagierte auf die Gewalt aber auch nur mit einem Aufruf, diese einzugrenzen. Putin, der inzwischen zu allen Staaten im Mittlern Osten tragfähige Beziehungen pflegt, wird diese wegen des derzeitigen Konflikts nicht gefährden wollen. Syrien und der Iran sind für die russische Politik wichtiger.
Saudi-Arabien ist neben Iran die regional stärkste Macht. Der Iran unterstützt die Hamas, muss sich derzeit aber offiziell zurückhalten, weil dies die Gespräche mit den USA über das Nuklearabkommen gefährden würde. Möglicherweise aber haben Kräfte aus dem Iran, die genau einen Abbruch dieser Gespräche erreichen wollen, die Hamas zum Angriff ermuntert. Saudi-Arabien wird dabei Maßnahmen unterstützen, die den Iran in die Schranken weisen.
Während der Konflikt von außen betrachtet ein Machtspiel mit vielen Akteuren ist, die alle unterschiedliche Interessen verfolgen, ist er von innen betrachtet darüber hinaus ein Spielkabinett unterschiedlicher Wahrheiten. Wo Israel behauptet, Recht umzusetzen, sprechen die Palästinenser von ethnischer Säuberung; wo Israel von Angriff spricht, behaupten die Palästinenser, sich zu verteidigen.
Jede Seite sieht nur ihre eigene Wahrheit und versucht nicht, die Lage auch mit den Augen der anderen zu sehen. Das ist in Gewaltkonflikten auch besonders schwer. Aber anders kommt man selten aus ihnen heraus, es sei denn eine Seite wird bis zur vollständigen Kapitulation niedergekämpft. Das ist in diesem Fall keine Option.
In vielen Debatten außerhalb der Region spiegelt sich diese Nabelschau auf die eigene Wahrheit. Die Unterstützer Israels oder der Palästinenser halten sich gegenseitig niederträchtige Motive vor. Wer komplizierte Lagen einfach macht, endet dabei meistens in deftigem Zorn, aber in Wahrheit völlig neben dem Problem. Deshalb gilt für die Debatten weltweit, was auch den Akteuren in der Region zu raten wäre: Man sollte einmal versuchen, die Situation mit den Augen der anderen zu sehen. Schön wäre es, wenn das gelingen würde, aber Machtstreben, Gier, widerstreitende Interessen, Vorurteile und politisch aufgestachelte Emotionen verhindern das häufig.