Thomas Jäger ist Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Uni Köln. In einem Gastbeitrag äußert er sich hier zur Zwickmühle, in der Joe Biden wegen des Abzugs der US-Truppen aus Afghanistan steckte – und erklärt, warum der US-Präsident seine Entscheidung nun so harsch verteidigte.
Es war Präsident Trump, der den Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan einleitete. Seit 2018 verhandelte seine Regierung mit den Taliban in Doha (Katar) über die Frage, wie die US-Streitkräfte abziehen können und Afghanistan zukünftig regiert werde. Die Taliban wollten, dass die USA das Land verlassen. Die USA wollten, dass von Afghanistan keine erneute Terrorgefahr ausgeht und die Kämpfe im Land enden. Dazu mussten die unterschiedlichen politischen Parteien einen Kompromiss finden. Im Februar 2020 einigten sich beide Seiten, dass die amerikanischen Streitkräfte am 1. Mai 2021 abziehen. Dafür begannen die Taliban ein halbes Jahr später Verhandlungen mit der Regierung Ghani und sagten den USA zu, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgehen werde.
Die Gespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban führten zu nichts, aber der 1. Mai kam immer näher. Trump musste sein Versprechen, den vollständigen Abzug umzusetzen, nachdem er die Zahl der Soldaten vorab schon erheblich reduziert hatte, nicht mehr erfüllen. Denn er war nicht mehr Präsident. Nun lag es in den Händen von Joe Biden zu entscheiden, ob auch ohne eine friedliche Lösung für die politischen Konflikte im Land der Einsatz für die USA endet. Er war in der Zwickmühle.
Hätten die USA darauf bestanden, dass zuerst die afghanischen Friedensverhandlungen ein Ergebnis bringen müssten, hätte der 1. Mai nicht gehalten werden können. Denn die Taliban hatten an einem Verhandlungserfolg der Friedensgespräche ebenso wenig Interesse wie die afghanische Regierung. Ohne Frieden in Afghanistan bedeutete der Truppenabzug der USA allerdings die rasche Machtübernahme. Die Frage war vorab nur, wie viele Tage oder Wochen es dauern würde. Ohne Abzug der US-Truppen wäre am 2. Mai der Krieg erneut eskaliert. Dies war der zehnte Jahrestag der Tötung von Osama bin-Laden. Biden entschied sich zum Abzug und rechtfertigte diesen mit den großen Opfern der letzten zwanzig Jahre.
Über 2300 Tote hatten die USA zu beklagen und mehr als eine Billion Dollar aufgewendet. Wäre der Krieg wieder aufgeflammt, hätten die USA erneut ihre Truppen aufstocken, also weitere zehntausende Soldaten nach Afghanistan entsenden müssen. Das wäre schwieriger zu begründen gewesen als ein rascher Abzug. Denn über die wahren Machtverhältnisse im Land machte sich die amerikanische Regierung keine Illusionen. Auch nicht über den desolaten Zustand er afghanischen Armee. Sie musste jedoch starkgeredet werden, um die eigenen Truppen abziehen zu können. Dazu lieferten die US-Dienste dem Präsidenten die entsprechenden Unterlagen, wohl wissend, dass sie ihm nach dem Mund redeten. Sie sagten, was er hören wollte, nicht, was wirklich war.
Es kam aber trotzdem an die Öffentlichkeit, weshalb die zügige Einnahme Kabuls wenige Beobachter wirklich verwunderte. Die Taliban mussten nur aus ihren Häusern kommen. Widerstand gab es nicht. Nun ging es darum, nicht auch noch den Krieg der Bilder zu verlieren – also nicht zuzulassen, dass Bilder entstehen, in denen die USA schwach aussehen. Das Vietnam-Trauma wurde vor Jahrzehnten in den Bildern von der amerikanischen Botschaft in Saigon, der Hauptstadt Südvietnams, eingefangen: Auf dem Dach der Botschaft warteten damals die Menschen, um von Hubschraubern aus der Stadt geflogen zu werden. Um Bilder wie diese zu vermeiden, wurde vor dem ersten Eintreffen der Taliban in Kabul die amerikanische Botschaft geräumt.
Im militärischen Teil des internationalen Flughafens schlugen die USA ihr Lager auf und richteten dort eine provisorische Botschaft ein. In dieser Festung schützen nun 6000 Soldaten den weiteren Abzug. Präsident Biden hat die Taliban gewarnt, sie sollten die Ausreise der Amerikaner und ihrer Ortskräfte nicht behindern. Dies würde andernfalls eine "kraftvolle Reaktion" hervorrufen. Da die Taliban nun die Orte der Macht besitzen, sind sie erneut auch symbolisch angreifbar.
Es ist also nicht auszuschließen, dass der Konflikt auch noch diese Wendung nehmen wird. Denn Präsident Biden wird in der nun entstandenen Lage nicht als schwach erscheinen wollen. Seine Erklärung vor dem amerikanischen Volk war schon kraftvoll, ja aggressiv. Er sei der Präsident, trage die Verantwortung und habe entschieden. Es war eine Basta-Rede, in der er drei Schuldige für die Schwierigkeiten ausmachte: Erstens Donald Trump, der den Zeitdruck vereinbart hatte; zweitens Präsident Ghani, der aus Afghanistan geflohen sei; drittens die afghanischen Streitkräfte, die den Kampf gegen die Taliban nicht führten. Sollten amerikanische Soldaten ihr Leben riskieren, wenn es die afghanischen Soldaten nicht wollten?, fragte er die US-Bürger rhetorisch.
Biden hatte sich entschieden: Der Einsatz in Afghanistan liegt nicht im nationalen Sicherheitsinteresse der USA. Donald Trump forderte den Präsidenten zum Rücktritt auf, auch weil ihm die Lage in Afghanistan entglitten sei. Das sehen derzeit viele Amerikaner so, aber das muss so nicht bleiben. Die nächsten Tage entscheiden darüber, ob Afghanistan für Biden ein Fiasko sein wird oder eine mutige Korrektur einer vor zwanzig Jahren gefällten falschen Entscheidung.
So kämpft seine Regierung an zwei Fronten, am Flughafen in Kabul und mit den Medien in den USA. Dass die Administration geschwächt daraus hervorgeht, wie einige derzeit schon sicher zu wissen meinen, ist nicht ausgemacht. Denn Biden hat – gerade im Vergleich zur deutschen Bundeskanzlerin – offen, klar und eindeutig definiert, was für ihn die nationalen Interessen der USA sind. Das gibt ihm die Chance, eine Mehrheit davon zu überzeugen, dass er einen realistischen Weg in eine veränderte amerikanische Außenpolitik eingeschlagen hat.
Es ist eine linke Variante von „America first“ – weshalb seinem Widersacher Trump bleibt, zu kritisieren, was Biden in Afghanistan angerichtet hat. Für die meisten US-Bürger aber ist bedeutsamer, was er in den USA umsetzt. Solange keine erneute Terrorgefahr droht, kann Biden damit Erfolg haben. Deshalb müssen die USA nun noch intensiver Augen und Ohren offen halten. Denn ein Terroranschlag, der als Folge einer veränderten Afghanistanpolitik die USA erschüttern würde, wäre das Urteil über seine Präsidentschaft. Dieses Risiko ist Präsident Biden eingegangen.