12.000.000 Euro. Soviel gibt der europäische Verband der Chemieindustrie laut der Organisation Lobbycontrol jährlich dafür aus, die Politik in Brüssel zu beeinflussen. Der Branchenverband ist damit Spitzenreiter unter Europas Lobbyisten. Auf ihn folgen in der Top 10 große PR-Agenturen, Branchenverbände der Versicherungen und der Pharmaindustrie sowie Google und Microsoft.
Außer dem europäischen Städteverband "Eurocities" vertreten alle der Top-Lobbyisten Konzerne und Wirtschaftsverbände. NGOs sind im Ringen um Einfluss in der EU weit abgeschlagen. Das zeigt der neue EU-Lobbyreport von Lobbycontrol. Die Organisation fordert: Die EU muss den Einfluss der Konzerne beschränken.
Bislang werde dafür noch zu wenig unternommen. Es fehlten wirksame Regeln, um den Einfluss von Konzernen über Expertengruppen, unausgewogene Lobbytreffen oder informelle Kanäle zu begrenzen, heißt es in dem am Montag in Berlin veröffentlichten Lobbyreport. Die EU habe bei der Lobbytransparenz bereits Fortschritte gemacht. Aber die Macht der Konzerne sei eindeutig zu groß.
"Teilweise können sie Gesetze und politische Prozesse regelrecht kapern", sagte die politische Geschäftsführerin von Lobbycontrol, Imke Dierßen. Sie macht vor allem den Regierungen von EU-Mitgliedstaaten Vorwürfe.
"Über den intransparenten Rat der EU boxen nationale Regierungen immer wieder die Interessen ihrer heimischen Industrien durch", heißt es in dem Bericht. Auch Deutschland mache da mit:
Europa lasse es zu, "dass Konzerne und Reiche ihr Vermögen in Schattenfinanzplätze verschieben und sich dadurch ihrer Steuerverantwortung entziehen". Durch Steuervermeidung und -optimierung entgingen den EU-Ländern jedes Jahr 50 bis 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. "Das ist fünf bis sechs Mal so viel, wie die EU pro Jahr für Forschung und Bildung ausgibt", sagte Dierßen.
Die Möglichkeiten der Lobbyarbeit stehen allen Seiten zur Verfügung – zumindest theoretisch. Um verschiedene Interessen bei der Erarbeitung von Gesetzen berücksichtigen zu können, treffen Politiker sich mit Vertretern vieler verschiedener Gruppen. Mit der Autoindustrie und Umweltverbänden zum Beispiel. Der EU-Lobbyreport zeigt jedoch: Konzerne und Unternehmensverbände stecken in Brüssel nicht nur viel mehr Geld in Lobbyarbeit, sie haben auch deutlich mehr Einfluss.
Lobbycontrol zeigt anhand verschiedener Politikfelder, mit welchen Lobbyisten sich die EU-Kommissare in den Jahren 2014 bis 2018 getroffen haben. Die Lobby-Treffen von 22 der 28 Kommissare seien dafür ausgewertet worden. Das Ergebnis: Ein Drittel der Kommissionsmitglieder habe sich zu über 70 Prozent mit Wirtschafts-Lobbyisten getroffen.
Deutlich wird das Ungleichgewicht im Bereich Klimapolitik: Von den Lobby-Treffen der Klimadirektion haben laut Lobbycontrol 703 mit Lobbyisten der Unternehmen und Verbände stattgefunden, nur 116 mit Vertretern der Zivilgesellschaft, 63 mit nicht näher genannten "Anderen" und noch einmal 37 mit Lobbyagenturen und Anwaltskanzleien.
Auch in anderen Bereichen bestehe ein Missverhältnis. So setze sich die Expertengruppe "Emissionen im praktischen Fahrbetrieb – leichte Nutzfahrzeuge" zu 70 Prozent aus Vertretern der Autoindustrie zusammen. Der Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments zum Dieselskandal kam zu dem Schluss, dass diese Gruppe unter anderem dazu beigetragen hat, die Einsetzung eines effektiveren Testverfahrens für den Schadstoffausstoß von Fahrzeugen um Jahre zu verzögern.
"Konzerne können zur Durchsetzung ihrer Interessen auf eine unglaubliche Lobbypower zurückgreifen", sagte die Autorin des Berichts, Nina Katzemich.
Nicht nur Lobby-Treffen führen zu einem Einfluss der Wirtschaft auf die Politik. Auch die Nebeneinkünfte von Politikern sorgen immer wieder für Diskussionen. Um für Transparenz zu sorgen, müssen Abgeordnete im Bundestag wie auch im EU-Parlament ihre Nebeneinkünfte offen legen.
Einige Politiker wechseln nach dem Ende ihrer Amtszeit auch die Seiten. Das wirft die Frage auf, inwieweit die Interessen der Unternehmen bereits vor dem Wechsel eine Rolle bei den Entscheidungen der Politiker gespielt haben.
In der EU-Kommission gibt es für einen Wechsel in die Wirtschaft eine Karenzzeit-Regel. Das heißt: Mitglieder der Kommission müssen sich neue Tätigkeiten in einem Zeitraum von zwei Jahren nach ihrem Ausscheiden genehmigen lassen. Für den Kommissionspräsidenten gilt das sogar drei Jahre lang. Für Europaabgeordnete gibt es so eine Regelung hingegen nicht.
Und Lobbycontrol zeigt gleich mehrere brisante Beispiele auf, in denen Politiker die Seiten gewechselt haben: Das prominenteste ist das des früheren Kommisionspräsidenten José Manuel Barroso, der nach seinem Abtreten 2016 zur Investmentbank Goldman Sachs ging – und die Bank ausgerechnet beim Umgang mit dem Brexit beriet. Andere Kommissionsmitglieder und EU-Parlamentarier nahmen kurz nach Ende ihrer Amtszeiten Tätigkeiten als Unternehmensberater, oder direkt bei Lobby-Firmen auf.
Der Lobbyreport gipfelt in fünf Forderungen an die Politik:
(fh/afp)