Der Politikberater Dominic Cummings äußerte heftige Kritik an Boris Johnson.Bild: dpa / Tayfun Salci
International
Lügen, Chaos, Versagen: In einer stundenlangen
Generalabrechnung hat der ehemalige Top-Regierungsberater Dominic
Cummings über die Corona-Politik von Premierminister Boris Johnson
hergezogen. Johnson sei "ungeeignet", die Regierung zu führen, sagte
Cummings in London am Mittwoch vor Parlamentariern. Der
Regierungschef habe das Virus völlig unterschätzt, es habe keine
vorbereiteten Krisenpläne gegeben. "Zehntausende Menschen sind
gestorben, die nicht hätten sterben müssen." Johnson wies die
Vorwürfe zurück.
Es sind mehrere potenzielle Minen, die der einst mächtigste Mann an
Johnsons Seite seinem früheren Chef in den Weg legt. Zwar beteuert
Cummings, mit seiner Aussage wolle er die Wahrheit ans Licht bringen.
Doch es wirkt streckenweise wie ein Rachefeldzug: Die einstige "graue
Eminenz" hatte die Regierung im November 2020 im Streit verlassen.
Dominic Cummings bezeichnete Johnson indirekt als "Esel"
Ins Visier nahm Cummings vor allem Gesundheitsminister Matt Hancock,
dem er Lügen und kriminelles Verhalten vorwirft. Der Ressortchef habe
etwa bei der Beschaffung von Schutzausrüstung versagt und versucht,
die Schuld auf andere zu schieben. Ein Sprecher des
Gesundheitsministeriums wies die Vorwürfe gegen seinen Chef zurück:
Jeder in dem Ministerium habe "unglaublich hart gearbeitet", um den
Gesundheitsdienst NHS zu schützen und Leben zu retten. Auch Johnsons
Sprecher verteidigte Hancock, der weiterhin im Amt ist.
Dem Premier sprach Cummings ohnehin die Qualitäten ab. Es gebe
"Abertausende" Menschen, die kompetenter seien als Johnson. Dabei
gebe es unter den Berufsbeamten viele brillante Köpfe. "Das Problem
in dieser Krise war, dass immer wieder Löwen von Eseln geführt
wurden." Er bezog die Kritik ausdrücklich auch auf sich.
Johnson habe sich das Coronavirus live im Fernsehen spritzen lassen wollen
Cummings zeichnete vor den Mitgliedern zweier Parlamentsausschüsse
das Bild eines selbstverliebten Premierministers, dem es nur um den
Machterhalt geht, und der die Gefahr einer Gesundheitskrise lange ins
Lächerliche zog. Der Regierungschef habe sich sogar absichtlich das
Virus live im Fernsehen injizieren lassen wollen, um zu zeigen, dass
Corona nicht gefährlich ist, behauptete Cummings. Johnson infizierte
sich später tatsächlich und musste tagelang - "fast auf dem
Sterbebett", wie Cummings sagte – auf einer Intensivstation behandelt
werden. Auch der Ex-Berater erkrankte schwer an Corona.
Dennoch habe Johnson Kurs gehalten, so Cummings. Als er eine
schärfere Einreisepolitik wie in Taiwan gefordert habe, wetterte der
Premier lieber gegen den landesweiten Lockdown. Demnach sagte
Johnson, er hätte sich lieber wie der Bürgermeister aus dem Spielfilm
"Der Weiße Hai" verhalten sollen, der trotz des menschenfressenden
Raubfischs die Strände nicht schließt – aus Sorge um den Tourismus.
Medienberichten zufolge sagte Johnson damals, lieber nehme er in
Kauf, dass sich "die Leichen zu Tausenden auftürmen". Cummings
bestätigte die Aussage, die der Premier wiederholt dementiert hat.
Großbritannien wurde vom Coronavirus stark getroffen
Johnson habe zudem zugegeben, er habe vor Cummings mehr Angst als vor
dem Chaos in der Regierung. "Chaos bedeutet, dass alle zu mir als
Verantwortlichem hochblicken werden", habe Johnson ihm gesagt.
Cummings beschrieb eine Regierung auf Zick-Zack-Kurs: Der eigentliche
Plan sei gewesen, eine Herdenimmunität zu erreichen. So habe Mitte
März 2020 der damalige oberste Spitzenbeamte Mark Sedwill gesagt,
Johnson solle zu Coronavirus-Partys aufrufen, ähnlich wie Eltern
Windpockenpartys für ihre Kinder veranstalten. Kabinettsmitglieder
hatten die Vorwürfe schon vor der Aussage zurückgewiesen.
Mit mehr als 150.000 Menschen, die an oder mit Covid-19 gestorben
sind, ist Großbritannien eines der von der Pandemie am schwersten
betroffenen Länder Europas. Die Regierung steht in der Kritik,
besonders mit dem ersten Lockdown zu lange gezögert zu haben.
Cummings sagte, zur Ausbreitung des Virus habe auch beigetragen, dass
Corona-Patienten ungetestet aus Kliniken zurück in Pflegeheime
geschickt worden seien – entgegen Beteuerungen von Behördenseite.
Kritik aus der Opposition – Desinteresse aus konservativen Kreisen
Für die Opposition sind die heftigen Vorwürfe ein gefundenes Fressen.
"Wir hatten einen Zirkus, als wir eigentlich eine ernsthafte
Regierung brauchten", sagte der Fraktionschef der schottischen
Pro-Unabhängigkeitspartei SNP, Ian Blackford. Doch Johnson ließ die
Anschuldigungen an sich abprallen. Zwar entschuldigte er sich für die
Leiden der Bevölkerung und übernahm die Verantwortung. "Aber ich
halte daran fest, dass die Regierung durchweg mit der Absicht
gehandelt hat, Leben zu retten", sagte Johnson. Lieber blickte er
nach vorne – und wähnt dabei die Bevölkerung an seiner Seite. Während
die Opposition in der Geschichte stochere, handele seine Regierung.
Von seiner Konservativen Partei dürfte Johnson nicht allzu viel zu
befürchten haben, solange er an der angekündigten Öffnungspolitik
festhält. Anstatt in Sachen Cummings nachzufragen, war es einem
Abgeordneten vielmehr ein Anliegen, ob Boris Johnson nicht in
Nordwestengland bald ein Alpaka namens Boris treffen wolle. Er komme
gerne, ließ der Premier bescheiden.
(lfr/dpa)
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