Ungeachtet des alarmierenden Vormarsches der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan hat das Bundesverteidigungsministerium Überlegungen zu einem neuen Bundeswehreinsatz in dem Krisenland zurückgewiesen. Es sei "nicht erkennbar", dass es dafür eine politische Mehrheit in Deutschland gebe, sagte Ministeriumssprecher Arne Collatz am Montag in Berlin. Mit Aibak in der Provinz Samangan im Norden Afghanistans fiel die mittlerweile sechste Provinzhauptstadt an die Islamisten.
Collatz sagte weiter, wegen der fehlenden politischen Mehrheit in Deutschland gehe er nicht davon aus, "dass wir einen Monat nach dem Abzug der deutschen Kräfte darüber nachdenken sollten, wieder in einen Kampfeinsatz dort hineinzugehen."
Nach der Eroberung der afghanischen Stadt Kundus durch Taliban am Sonntag hatte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, am Wochenende einen neuen Bundeswehreinsatz ins Spiel gebracht. In einem Interview der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" appellierte der CDU-Politiker an die internationale Gemeinschaft, den Vormarsch der Taliban zu stoppen. Dies könne auch eine Beteiligung der Bundeswehr bedeuten. "Wenn es also militärische Fähigkeiten der Europäer, auch der Deutschen, gibt, die jetzt benötigt würden, dann sollten wir sie zur Verfügung stellen", sagte Röttgen.
Die Bundeswehr hatte Ende Juni nach fast 20 Jahren die letzten Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Die US-Streitkräfte sollen bis Ende August das Land verlassen. Die Bundeswehr war lange Zeit in Kundus stationiert und hatte dort in Gefechten mit den Taliban und bei Anschlägen zahlreiche Soldaten verloren.
Die Taliban setzen ihre Militäroffensive in dem Land fort. Am Montag eroberten sie die Provinzhauptstadt Aibak in der Provinz Samangan im Norden des Landes, wie Provinzräte und Parlamentarier bestätigten.
Der Provinzrätin Machboba Rahmat zufolge hätten die Sicherheitskräfte die Stadt mit ihren geschätzt 120.000 Einwohnern einfach verlassen. Davor hätten sie das Verteidigungsministerium um Luftangriffe gebeten, aber dieses habe nicht auf sie gehört. "Sie dachten, wenn die Regierung ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt, werden sie ihr Leben nicht für die Regierung riskieren", so Rahmat. Die Sicherheitskräfte seien auf eine Anhöhe am Rande der Stadt geflohen.
Damit haben die Islamisten binnen vier Tagen sechs Provinzhauptstädte, der Großteil davon im Norden des Landes, eingenommen. In Kundus haben die Islamisten am Montag einem Provinzrat zufolge weitere Regierungseinrichtungen wie das Büro des Generalstaatsanwaltes oder das Menschenrechtsbüro besetzt. Zivilisten seien im Zuge der Gefechte getötet und verwundet worden, allerdings gebe es noch keine genauen Zahlen.
Der Gouverneur von Kundus, Polizei- und Geheimdienstchef seien in der Basis des 217. Armeekorps. Kämpfe würden am Stadtrand in dem Gebiet rund um den Flughafen und das Korps andauern. Von dort hätten Dutzende Familien, die zuvor aus ihren Bezirken vor Gefechten geflohen und in einer Schule untergebracht waren, erneut flüchten müssen. Insgesamt hätten 5000 Autos die Stadt in Richtung Kabul verlassen.
Das Militär evakuierte Provinzräten zufolge in der Nacht zu Montag Sicherheitskräfte und Regierungsvertreter, die sich nach dem Fall von Sar-i Pul in eine Militärbasis am Rande der Stadt zurückgezogen hatten und die von den Islamisten mit Mörsergranaten beschossen worden waren. Danach hätte die Luftwaffe die Basis bombardiert.
Aus der gefallenen Stadt Talokan geflohene Sicherheitskräfte haben sich lokalen Behördenvertretern zufolge mittlerweile in den Bezirk Warsadsch durchgeschlagen, der an die Provinz Pandschir grenzt, die noch unter vollständiger Kontrolle der Regierung steht. Die Taliban griffen Provinzräten zufolge erneut auch Teile der Stadt Pul-e Chumri in der Provinz Baghlan an, seien aber von den Sicherheitskräften zurückgeschlagen worden.
Angesichts steigender Opferzahlen in Afghanistan hat UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths zum Schutz der Zivilbevölkerung aufgerufen. Allein im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden, berichtete er am Montag. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef zeigte sich am Montag schockiert angesichts täglich steigender Gräueltaten in dem Konflikt. Binnen 72 Stunden seien in drei Provinzen des Landes 27 Kinder getötet und 136 verwundet worden.
Auch die Zahl der Binnenflüchtlinge steigt seit Anfang Mai massiv. Bis Ende Juli verließen annähernd eine Viertelmillion Menschen in dem Land ihre Dörfer und Städte. Laut Daten der UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) sind es mehr als 244 000 Menschen vor Gefechten geflohen - mehr als vier Mal so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahrs.
(vdv/dpa)