Als die Autorin dieses Texts durch die zerstörten Straßen der ostukrainischen Stadt Charkiw streift, trifft sie auf einen Deutschen. Michael Kröger hat sich zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine entschieden, im Land zu bleiben, um zu helfen.
Watson hat sich darüber mit ihm unterhalten. Ein Gespräch über Angst, Leid und Hilflosigkeit.
Watson: Michael, wer warst du in Deutschland? Und wer bist du in der Ukraine?
Michael Kröger: In Deutschland habe ich im Vertrieb gearbeitet, in der Fitnessbranche. Seit 2018 bin ich komplett in der Ukraine. Der Liebe wegen. Damals bin ich mit meiner Firma umgezogen und habe in Kiew jetzt mein Leben.
Dann kam der Krieg.
Dann kam der Krieg.
Und dann?
Die erste Rakete haben sie direkt über unseren Köpfen abgeschossen. Das war so der erste Knall. Man musste sich erst bewusst machen, dass der Krieg gerade wirklich Realität ist. Wir haben entschieden in Kiew zu bleiben, weil ich dann auch so ein bisschen die Kontrolle habe.
Was meinst du mit Kontrolle?
Mein Background ist zwölf Jahre Bundeswehr. Es hieß, man suche Menschen, die in unserem Viertel Streife gehen, patrouillieren – um unsere Anlage abzusichern. Also habe ich mich freiwillig gemeldet. Als die Menschen anfingen, Molotowcocktails zu bauen, habe ich gemerkt, dass keiner von denen militärisch Ahnung hatte, sie also in dieser Hinsicht komplett hilflos waren. Spätestens da war für mich klar, dass ich hier bleibe und helfe, unterstütze, verteidige.
Ihr seid dann alle geblieben?
Nein, nach einer Woche war es für meine Lebensgefährtin und die Kinder einfach nervlich nicht mehr auszuhalten, es hat jeden Tag geknallt. Wir haben also meine Gefährtin mit ihrem Sohn und die Frau unseres Nachbarn mit deren zwei Kindern evakuiert. Das waren die ersten Menschen, die wir evakuiert haben.
Die ersten? Kamen dann noch mehr?
Ja, da sind dann noch ein paar weitere Familien dazugekommen, die wir aus Kiew rausgeholt und nach Lwiw gebracht haben. Meine Lebensgefährtin lebt momentan in meiner Heimatstadt in Norddeutschland.
Wann begann deine Arbeit mit den Hilfsgütern?
In den ersten drei, vier Wochen des Krieges habe ich alles in die Wege geleitet. Ich habe wie wahnsinnig versucht, Lieferungen aus Deutschland und Polen zu organisieren. Das hat alles ewig gedauert, weil einfach nichts möglich war – alles nur Chaos. Letztendlich bin ich dann selbst zehn Stunden im Zug nach Lwiw gefahren, stand dann über Nacht wegen der Ausgangssperre fünf Stunden am Bahnhof und am nächsten Morgen wurde ich von der Transportfirma abgeholt. Wir sind von dort mit einem 20-Tonner rüber nach Polen gefahren und haben den LKW aus Bremen umgeladen.
Und dann wieder zurück nach Kiew?
Richtig, wir sind zwei Tage lang nach Kiew gefahren, direkt ins Militärkrankenhaus. Das war meine erste Lieferung.
Wie war das für dich, in ein Militärkrankenhaus zu gehen?
Es hat mich total überrascht, dass selbst die Soldaten, die dort stationiert waren und das Krankenhaus bewachten, total schlecht versorgt waren. Sie trugen Sneakers, weil es keine Stiefel oder überhaupt eine adäquate Ausrüstung für sie gab. Zu diesem Zeitpunkt wurden allein in dieses eine Krankenhaus täglich 50 bis 70 Verwundete eingeliefert.
Und das war ja nicht das einzige Krankenhaus in Kiew.
Genau. Dort gibt es vier große Krankenhäuser.
Und als du merktest, das hat funktioniert, hast du einfach weitergemacht?
Der erste Transport war holprig, weil es so schwierig war, überhaupt an Hilfsgüter zu kommen. Ich habe dann den ganzen Leuten, die mir auf Facebook folgen, gesagt: "Leute, alles, was ihr spendet, kommt eins zu eins dort an." Und die Menschen haben gespendet. Sie haben auf Videos und Fotos auf meinen Social-Media-Kanälen gesehen, dass ihre Spenden ankommen.
So ging das dann weiter? Über Spendenaufrufe bei Facebook?
Richtig, ich habe damit einfach weitergemacht und habe den Leuten gesagt: "So, der erste Transport war ja damals spannend. Jetzt will ich zwei LKW voll machen, zwei 40 Tonner." Und auch das habe ich dann geschafft und diese nach Kiew gebracht. Insgesamt komme ich jetzt auf 75 Tonnen Hilfsgüter.
Wir haben dich in Charkiw getroffen. Was hat dich da hingeführt?
Das ist ganz einfach: Meine Freundin hat auf Social Media einen Aufruf gestartet und gefragt: Wer braucht Unterstützung? Darauf haben sich verschiedene Einrichtungen gemeldet. Darunter zum Beispiel ein Kinderheim in der Nähe von Tschernihiw, in dem mehr als 100 behinderte Kinder leben. Auf Anfrage habe ich diese ganzen Einrichtungen dann damit beliefert, was sie wirklich brauchten. In Charkiw hatte ein ehemaliger Studienkollege den Kontakt zu einer Organisation hergestellt. Dann habe ich auch dort das Militärkrankenhaus beliefert, Soldaten habe ich auch eine Lieferung gebracht. Zirka 250 Kilometer von Charkiw entfernt liegt Krementschuk – dorthin habe ich Babynahrung geliefert.
Video von Michael, als er watson-Reporterin Joana traf
Du hast einen deutschen Pass. Wenn du wolltest, könntest du einfach aus der Ukraine raus und warten, bis alles vorbei ist. Was treibt dich an?
Na ja... Ich denke einfach mal, wenn man die Hilflosigkeit und das ganze Leid sieht... das ist eine Seite. Auf der anderen Seite lebe ich hier schon so lange, ich gehe hier seit 2015 ein und aus, seit 2018 wohne ich hier: Ich fühle mich mit dem Land einfach verbunden.
Und mit den Menschen vermutlich.
Na klar, auch mit den Menschen. Wenn du in die Dörfer fährst – du hast es ja selbst erlebt – und die Leute dann dasitzen und weinen... Ja, das ist schwer zu ertragen.
Das heißt, du handelst aus dem Schmerz heraus.
Wenn man es so sagen möchte... ich kann es selbst nicht beschreiben. Es ist einfach so, dass ich die Hilflosigkeit und das Leid sehe. Und ich habe nun mal die Möglichkeit, zu sagen: "Mein Job läuft onlinebasiert, ich kann das zur Seite stellen, das läuft alles automatisiert." Ich habe von Anfang an alles auf Facebook berichtet, was ich gesehen und gemacht habe – ich habe da also schon eine Historie aufgebaut, die Menschen sehen, dass ich kein dummes Zeug erzähle. Und nach wie vor haben wir einen richtig guten Zulauf an Spendengeldern. Solange das da ist, kann man es ja auch nutzen.
Was hat dich denn in deiner Zeit als freiwilliger Helfer besonders betroffen gemacht?
Am heftigsten war für mich der Tag, an dem ich eine Lieferung zum Bürgermeister von Mykulychi in der Region Butscha/Irpin brachte. Ich habe gedacht, ich fahre da hin, bringe dem Bürgermeister die Sachen und kann dann wieder abziehen. Aber plötzlich stand da quasi das ganze Dorf. Dann stehst du da vor mehreren Hundert Leuten und musst erstmal schlucken, weil du eben jedem nur eine Konserve und eine Packung Nudeln geben kannst. Dann rettet dich selbst nur der Gedanke, dass die Menschen zumindest etwas bekommen haben. Bei der nächsten Lieferung dorthin war ich dann aber auch besser vorbereitet. Da konnte dann wirklich jeder frisches Graubrot kriegen, Konserven, Tee, Kaffee, Zucker, alles Mögliche.
Was sagen deine Freundinnen und Freunde in Deutschland dazu, dass du im Krieg bist?
Also auf meiner Seite reagieren alle positiv.
Hast du persönlich vor irgendwas Angst?
Nein, gar nicht.
Also auch nicht, wenn du in Gegenden wie Charkiw unterwegs bist? Drei Tage, nachdem wir uns dort getroffen haben, wurde die Stadt wieder angegriffen.
Ja, ich weiß.
Nochmal: Du hast keine Angst um Leib und Leben?
Nein. Respekt natürlich. Aber keine Angst.
Man stirbt ja auch nicht für sich, man stirbt für andere, heißt es...
Richtig. Man muss sich einfach mit dem Gedanken abfinden, dass man sterben könnte.