Wieder einmal hat Viktor Orbán sich durchgesetzt – und Geld bekommen. Zehn Milliarden Euro hat die EU-Kommission für Ungarn freigegeben, wie am Mittwochabend bekannt wurde. Und das, obwohl es sich eigentlich um wegen des Rechtsstaatlichkeitsstreits eingefrorene Gelder handelt.
Offiziell begründet wird die Entscheidung damit, dass Ungarn notwendige Reformen durchgeführt habe, das Land respektiere nun die Rechtsstaatlichkeit wieder. Doch Expert:innen halten die Änderungen eher für Schein. Offenbar hat der ungarische Premier die EU-Politik erneut zu seinen Gunsten gesteuert. Orbán treibt hier ein Spiel, in dem er sich bestens auskennt: Er nutzt EU-Verträge und Abläufe innerhalb der Europäischen Union für sich aus.
Insofern kommt die Freigabe der Gelder für Expert:innen nicht überraschend. Viktor Orbán hat sogar selbst in einem Interview mit dem konservativen ungarischen Wochenmagazin "Mandiner" über den Plan Ungarns in der EU gesagt: "Nicht raus, sondern rein. Tiefer und tiefer! Mein Plan ist es nicht, sie zu verlassen, sondern Brüssel zu übernehmen."
Derzeit nutzt Orbán für seine Ziele Russlands Krieg aus. Militärhilfen von 50 Milliarden an die Ukraine? Sanktionen gegen Russland? Den Start der Beitrittsverhandlungen für die Ukraine? Alles blockiert von Orbán. Eigentlich wollten sich die EU-Staats- und -Regierungschefs auf dem Donnerstag beginnenden Gipfel auf Beitrittsverhandlungen einigen. Durch ein Veto Ungarns wird das allerdings schwierig.
Doch wie kann es sein, dass sich Orbán derart dagegen stellt?
Das liegt mitunter daran, wie in der EU Entscheidungen der Außen- und Finanzpolitik getroffen werden. Denn diese müssen von allen Mitgliedsstaaten getroffen werden. Einstimmig.
Ein Umstand, der Orbán Macht verleiht.
Das Problem erklärt Andreas Bock, Ungarn-Experte bei der Denkfabrik European Council of Foreign Relations (ECFR), gegenüber dem "Tagesspiegel" wie folgt: "Orbán ist immer wieder mit seinen Erpressungsversuchen durchgekommen, weil er weiß, dass die EU-Staaten ohne seine Stimme nicht handlungsfähig sind."
Dass nun eigentlich eingefrorene Gelder nach Ungarn fließen, liegt also weniger an scheinbar durchgeführten notwendigen Reformen in dem Land. Vielmehr sollen Deutschland und Frankreich darauf gepocht haben, damit Orbán möglicherweise einlenkt.
Laut Bock hat das vor allem wirtschaftliche Gründe: Enge Verbindungen in der Wirtschaft zwischen Ungarn und anderen EU-Ländern erschweren ihm zufolge ein hartes Vorgehen gegen das Land. "Deutschland ist zum Beispiel einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Ungarns und die Automobilindustrie spielt dabei eine Schlüsselrolle", sagt er.
Dass die permanente Erpressung der EU Erfolg hat, liegt auch an einem weiteren Umstand: Der Skrupellosigkeit Orbáns und dass die EU rechtlich schlicht nicht auf so ein Verhalten ausgerichtet ist.
Daraus entsteht dem Leiter des Brüsseler Büros und Vizepräsidenten der Denkfabrik Globsec, Roland Freudenstein, zufolge eine Machtlosigkeit für den Staatenverbund.
"Der EU-Vertrag setzt voraus, dass Mitgliedstaaten zwar durchaus nationale Interessen verfolgen, dass sie sich aber am Ende immer am Gemeinwohl orientieren und Kompromisse suchen", sagt er dem "Tagesspiegel". Ist ein Land erst einmal Mitglied, sei es schwierig, dagegen vorzugehen. Unabhängig davon, wie oft Veto eingesetzt oder Grundwerte missachtet werden.
Viele Möglichkeiten, das Problem zu lösen, gibt es nicht. So ist es laut Einschätzung der Experten kaum möglich, Ungarn oder einem anderen Land die Ratspräsidentschaft zu entziehen. Einen Machtverlust für Orbán würde auch eher der Entzug des Stimmrechts bedeuten. Dieses "Artikel 7-Verfahren" sei jedoch schon seit Jahren im Gange und benötige ebenfalls ein "Ja" von allen Mitgliedstaaten. Daran scheiterte es bisher.
Zudem gibt es die Idee, das sogenannt Einstimmigkeitsprinzip loszuwerden. Das würde bedeuten, dass ein einzelnes Land Entscheidungen nicht mehr blockieren kann. Allerdings braucht es dafür – wie sollte es anders sein – Einstimmigkeit. Dass Ungarn hier mitmacht und damit seinen eigenen Machtverlust unterschreibt, gilt als unwahrscheinlich.
Diese Machtlosigkeit lässt mitunter härtere Lösungswege in der Debatte aufkommen, wie Freudenstein weiter erklärt: "Natürlich werden unter Experten auch Szenarien durchgespielt, in denen Orbán immer weitermacht und dann die anderen Mitgliedstaaten irgendwann kollektiv austreten und eine neue EU gründen, oder Ähnliches."
Dies seien jedoch nur Gedankenspiele, deren Umsetzung nicht nur aufwändig und schwierig wären, sondern auch politisch ein großes Risiko mit sich bringen würden.