"Lasst niemanden zurück" – Ein Demonstrant in München fordert die Räumung des Lagers Moria.Bild: imago images / Sachelle Babbar
International
10.09.2020, 06:2110.09.2020, 06:34
Soll Deutschland vorangehen und
Migranten von den griechischen Inseln aufnehmen - oder versuchen,
andere EU-Staaten für eine umfassendere Lösung der Asylproblematik zu
gewinnen? Nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria auf der Insel
Lesbos wird die Diskussion in Deutschland heftiger denn je geführt.
Die Bundesregierung als derzeit amtierende EU-Ratspräsidentschaft
setzt weiter auf eine europäische Lösung und hält sich mit
einseitigen Aufnahmeangeboten zurück. Doch nun schert
Entwicklungsminister Gerd Müller aus und fordert, 2000 Migranten
aufzunehmen.
Deutschland solle mit einem entsprechenden "Zeichen der
Humanität" vorangehen, sagte der CSU-Politiker am Mittwochabend in
der ARD. "Ich persönlich bin der Meinung, dass wir die Angebote der
deutschen Länder annehmen sollten." Mehrere Bundesländer hatten
konkrete Zahlen von Migranten genannt, die sie bereit seien
zusätzlich aufzunehmen. Sie hatten den zuständigen Bund aufgefordert,
dem zuzustimmen - wissend, dass der dann auch einen Großteil der
Kosten tragen müsste.
Bisher hat die Bundesregierung eine solche Positionierung
vermieden und lediglich davon gesprochen, dass Deutschland
Griechenland helfen werde. Diese Haltung verteidigte auch
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, der sich
derzeit um den CDU-Vorsitz bewirbt. Nachdem er tagsüber die
Bereitschaft zur Aufnahme von bis zu 1000 Migranten bekundet hatte,
sprach er am Abend lediglich von einem Signal an die Bundesregierung
und betonte vor allem die Notwendigkeit einer umfassenderen
europäischen Lösung.
"Hier wird man eine viel größere Lösung brauchen als nur einen
deutschen Alleingang", sagte Laschet im ZDF. "Das ist nicht damit
gelöst, dass alle nach Deutschland kommen." Sonst sei wenige Wochen
später das Problem wieder da, und die anderen EU-Länder zögen sich
zurück, erklärte er in der ARD. Er teile deshalb die Haltung von
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU).
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert
Röttgen, wie Laschet Bewerber um den CDU-Vorsitz, sagte dem
"Handelsblatt": "Ich bin dafür, dass Deutschland möglichst mit
anderen europäischen Ländern 5000 Flüchtlinge vom griechischen
Festland aufnimmt, so dass in der Folge Moria entlastet werden kann."
Demonstrationen fordern schnelle Hilfe
Durch den Brand im Lager Moria, das eigentlich nur auf 2800
Bewohner ausgelegt war, sind auf einen Schlag mehr als 12.000
Migranten auf Lesbos ohne Bleibe - einem Eiland mit gerade einmal 85.000 Einwohnern. Am Mittwochabend forderten mehrere Tausend
Demonstranten in deutschen Städten die Bundesregierung auf, Migranten
von dort und von anderen Ägäis-Inseln in der EU und Deutschland
aufzunehmen. In Berlin beteiligten sich laut Polizei rund 3000
Menschen, in Leipzig 1800, in Hamburg mehr als 1200 und in Frankfurt
am Main 300.
CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak verlangte eine rasche
Entscheidung über Hilfe für die Betroffenen. "Wir müssen im Interesse
der Menschen vor Ort schnell handeln. Die humanitäre Versorgung sowie
die Unterbringung der Kinder und Erwachsenen muss gewährleistet
sein", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Zugleich verlangte er,
endlich über ein langfristiges europäisches Konzept zum Umgang mit
Flüchtlingen zu entscheiden. "Die jetzige Situation zeigt wieder,
dass wir dringend ein abgestimmtes Vorgehen in Europa brauchen."
Die SPD als Koalitionspartner sowie die oppositionellen Grünen
und Linken setzen die Regierung hingegen erheblich unter Druck,
Migranten aus Moria aufzunehmen. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken
mahnte Seehofer, eine Aufnahme nicht zu blockieren und "diesen armen,
verzweifelten Menschen, vor allem den Familien und Kindern zu
helfen". Sie befürwortete in der ARD-Sendung "Maischberger" eine
europäische Lösung und sagte: "Wir werden nicht alleine 13.000
Menschen aus Moria aufnehmen, das kann nicht der Weg sein, aber wir
werden einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten."
Grünen-Chefin Annalena Baerbock hatte zuvor die Evakuierung aller
griechischen Lager und die Hilfe Deutschlands dabei gefordert. Die
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt will am Donnerstag für
drei Tage nach Moria fahren.
Auch international herrscht Uneinigkeit
Auch der Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Deutschland,
Frank Remus, appellierte an die Bundesregierung, zusätzliche
Migranten aufzunehmen. "Deutschland pocht bisher auf eine europäische
Lösung, was ich verstehen kann", sagte Remus der "Welt". In einer
Notsituation wie dieser begrüße er es aber, wenn die bisherige
Politik überdacht würde. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche
in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, schloss sich dieser
Forderung in der "Passauer Neuen Presse" an.
Norwegen kündigte an, nach dem Brand 50 Menschen aus dem Lager
aufzunehmen, vorzugsweise Familien. Frankreich sicherte ebenfalls
Unterstützung zu.
Andere blockten ab. "Wir müssen sehr vorsichtig sein, dass wir
hier nicht Signale ausschicken, die dann eine Kettenreaktion
auslösen, der wir vielleicht nicht mehr Herr werden", sagte
Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg im ORF. Würde das
Lager durch Verteilung der Migranten auf europäische Staaten geräumt,
wäre es bald wieder voll. Die niederländische Justiz-Staatssekretärin
Ankie Broekers-Knol sagte dem TV-Sender RTL Nieuws: "Die Niederlande
haben immer den Standpunkt vertreten, dass wir keine Menschen
übernehmen."
Auf Lesbos lagen am Tag nach dem Großbrand im Lager Moria
Container, Zelte und Sanitäranlagen in Schutt und Asche. In einem ersten Schritt kündigte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis an, Schiffe und Zelte als provisorische Unterkünfte zu schicken. Doch auch das kann angesichts des nahenden herbstlichen Regenwetters nur eine Übergangslösung sein. Die Internationale Organisation für Migration entsandte ein Team einschließlich Dolmetschern, um Helfende vor Ort zu unterstützen und mobile Lagereinheiten aufzubauen.
(pcl/dpa)
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