Es ist 2020. Dinge, von denen man es nie erwartet hätte, werden zum Symbol für die Spaltung von Gesellschaften: Händewaschen, Masken, demokratische Wahlen. Und jetzt, ja, ein Zahn – ein Zahn von Louie Gohmert. Gohmert ist US-Kongressabgeordneter, stolzer Texaner, Trumpist, Verfechter der aktuellen US-Wahlbetrugs-Behauptung und berühmt dafür, dass er im Juli das Maskentragen für seine Corona-Erkrankung verantwortlich machte.
Dieser Mann nun steht am Dienstag vor Journalisten, um sich gegen den neuen Verteidigungshaushalt zu äußern. Er spricht von seinen Erfahrungen mit Verbündeten in Afghanistan, hält kurz inne, verdreht etwas den Mund – und es sieht tatsächlich so aus, als sei ihm in dem Moment ein Zahn ausgefallen.
Der Ausschnitt geht viral und wird intensiv kommentiert – vor allem mit Häme, wie hier von "Pod save America", einem politischen Podcast früherer Obama-Mitarbeiter: "Neue Regel: Wenn ein Teil von einem in der Öffentlichkeit abfällt, verzichtet man automatisch auf seinen Sitz":
Der Ton zwischen den verfeindeten Seiten in den USA ist rau, auch und gerade auf Twitter. Die Journalistin Ashley Feinberg schreibt, dass sie nichts lieber möge, als "geriatrischen" Politikern dabei zuzusehen, wie sie "vor unser aller Augen zerfallen." Dabei ist das noch die freundliche Übersetzung, "decompose" könnte auch verwesen und verrotten heißen.
Gegen die Häme meldet sich Journalist Yashar Ali zu Wort: Der Verlust von Zähnen sei sehr schambehaftet, die zahnmedizinische Versorgung in den USA sei eine Tragödie. Er ermahnt die Menschen, die ihre Scherze über Gohmert für harmlos halten: "Menschen, die ihr liebt, sehen, was ihr über ihn sagt."
In den Reaktionen wird aber auch klar, dass die Szene bei der Pressekonferenz mit der überstandenen Corona-Erkrankung des Politiker assoziiert wird – und damit mit einem der größten Streitthemen der USA in diesem Jahr: Als Anti-Maskenmann habe Gohmert einen Zahnverlust quasi selbst zu verantworten, wird unterstellt.
Die "New York Times" berichtete erst vor wenigen Wochen von Covid-Betroffenen – auch von solchen mit zunächst leichterem Verlauf – die Monate nach der Erkrankung plötzlichen und unerwarteten Zahnausfall erlebten. Schmerzlos und ohne Blut. Es gebe zwar für die direkte Verbindung zwischen der Infektion und dem Zahnausfall noch keine harten Beweise, betont die "Times", aber der Zusammenhang werde untersucht.
Es sei extrem selten, dass Zähne buchstäblich aus der Halterung fallen, sagte ein Parodontologen der University of Utah der Zeitung. Bestehende Zahnprobleme könnten sich allerdings als Folge einer Corona-Erkrankung verschlimmern. Die Tatsache, dass es in den geschilderten Fällen kein Blut gegeben habe, sei ungewöhnlich und deute auf ein Geschehen in den Blutgefäßen hin, sagt ein Experte für Gefäßkrankheiten.
Auch Louie Gohmert selbst meldet sich bei Twitter zu Wort – und dementiert, dass es sich überhaupt um einen Zahnausfall gehandelt habe: "Reporter interessieren sich jetzt schon mehr für die Tatsache, dass meine provisorische Krone sich heute in der Pressekonferenz gelöst hat, als für Hunter Bidens Laptop oder den weitverbreiteten Wahlbetrug beim Rennen 2020. Wie immer exzellente Prioritäten", kommentiert er.
Ob Zahn oder Krone: Entstanden ist daraus ein typischer Twitter-Moment einer gespaltenen Gesellschaft. Er lenkt zudem die Aufmerksamkeit auf eine potenzielle Corona-Folge, die wie aus einem Albtraum genommen scheint.
(andi)