Bild: Ukrainian Presidential Press Off / dpa Bildfunk
International
Bald zehn Monate dauert die russische Ukraine-Invasion. Wie die ukrainische Bevölkerung ihren Alltag in Zeiten des Chaos gestaltet, erzählt der ehemalige Wirtschaftsminister und Selenskyj-Berater Tymofiy Mylovanov im Gespräch mit watson.
06.12.2022, 15:5906.12.2022, 16:02
Kilian Marti / watson.ch
Wie sich 300 Tage im Krieg anfühlen, mag für viele unvorstellbar sein. Wie das ist, wissen bald rund 36 Millionen Ukrainer, die sich am 20. Dezember genau in dieser Situation befinden werden. Andere 7,7 Millionen Menschen sind laut der UN seit der russischen Invasion aus dem Land geflohen.
Doch der Großteil der Ukrainerinnen und Ukrainer harrt schon bald zehn Monate in ihrer Heimat aus, während diese von Raketeneinschlägen und die dadurch verursachten Strom- und Wasserunterbrüche heimgesucht wird. Das Leben geht für die Bevölkerung trotzdem weiter, wenn auch sehr eingeschränkt.
"Der Alltag zu Kriegszeiten fühlt sich an, als wäre man ins letzte Jahrhundert zurückversetzt worden"
Selenskyj-Berater Tymofiy Mylovanov
"Der Alltag zu Kriegszeiten fühlt sich an, als wäre man ins letzte Jahrhundert zurückversetzt worden", sagt der ehemalige ukrainische Wirtschaftsminister und Selenskyj-Berater Tymofiy Mylovanov zu watson. Auf dem Weg zur Arbeit in Kiew nimmt sich der Ukrainer die Zeit, um am Telefon über die Situation in seiner Heimat zu sprechen.
Mylovanov ist Präsident der Kiewer Hochschule für Wirtschaft mit über 5000 Studierenden und außerordentlicher Professor an der US-Universität Pittsburgh, wo er bis vier Tage vor Kriegsbeginn noch gelehrt hat. Der Professor entschied sich damals, eines der letzten Flugzeuge zu nehmen, um zurück in die Ukraine zu reisen. "Ich wusste einfach, dass mich die Hochschule in dieser Zeit braucht", sagt er.
Ukrainer:innen schmelzen Schnee
Seit Februar 2022 lebt er nun, wie er selbst sagt, im letzten Jahrhundert. Ein Hauptgrund dafür seien die beinahe täglichen, mehrstündigen Stromausfälle. Was der europäische Westen seit Monaten fürchtet, gehört in der Ukraine zum Alltag: Blackouts. "Man lebt tagelang in einer kalten Wohnung, ohne Licht und ohne Wasser – nicht einmal in der Toilette", sagt Mylovanov, der auf Twitter regelmäßig über das Leben in Kriegszeiten berichtet.
Zum Glück würde die Regierung weite Teile der Bevölkerung fast jeden Tag ein, zwei Stunden mit Strom versorgen – wenn Russland gerade keine Raketen abwerfe. In dieser Zeit könne man beispielsweise etwas Wasser erhitzen, um es in großen Schüsseln in der Wohnung zu verteilen. "Das schafft Wärme", sagt er.
Doch das Wasser komme und gehe genau wie der Strom. Viele Ukrainer würden darum Schnee sammeln und diesen schmelzen lassen.
"Von Vorteil ist auch, wer einen Campingkocher hat", sagt er. Oder noch besser: Einen Generator, um bei einem Blackout Strom für das Nötigste zu haben.
Für den kommenden Winter sei dieser das wertvollste Gut, findet Mylovanov. Er hofft darauf, dass noch mehr Aggregatoren vom Ausland geliefert würden.
Sich vorzubereiten und vorauszudenken sei die Prämisse im Kriegsalltag: "Wichtig ist, Bargeldreserven zu haben." Durch Stromausfälle könne man oft nicht mehr mit der Bankkarte bezahlen. Das Problem sei aber, dass Geldautomaten in den Städten oft überlastet und leer seien.
Grundversorgung schwierig
Ein, zwei Tage ohne Strom und Wasser zu überbrücken, sei möglich. Aber sobald es länger dauere, gestalte sich die Grundversorgung schwierig. "Es fühlt sich wie Überleben an", sagt Mylovanov.
Die Bevölkerung auf dem Land habe weniger Probleme mit Wasser und Strom. "Es hat Vorteile und Nachteile, in kleinen Dörfern zu leben", sagt er.
Positiv sei, dass diese Holzöfen hätten und darum zum Heizen nicht auf Strom angewiesen seien. Zudem sei oft ein Fluss oder eine saubere Wasserquelle wie Trinkbrunnen in der Nähe. Schwieriger werde es jedoch, fernab von großen Städten an medizinische Versorgung zu kommen. "Alles in allem ist es aber in vielen Dörfern einfacher zu überleben", sagt er.
Da sich Mylovanov jedoch in Kiew befinde, stehe er oft vor ganz anderen Herausforderungen – beispielsweise die Studenten in der Schule zu versorgen. So werden Unterkünfte bezahlt, für Verpflegung gesorgt und Internetzugang gewährleistet.
"Täglich finden die Vorlesungen statt, wenn nötig, im Bunker", erzählt er. Dies funktioniere gut. Es dauere sieben Minuten, um die ganze Hochschule in den Schutzräumen unterzubringen.
Traumatisiert und depressiv
Die Studierenden wären dankbar, dass man ihnen in Kriegszeiten helfe, "sich normal zu fühlen". Für Mylovanov ist klar: "Unsere jungen Erwachsenen sind Vorbilder. Sie sind voller Energie und Hoffnung für das Leben, das sie erwartet – trotz der Umstände."
Ihm selbst falle es manchmal schwer, optimistisch zu bleiben – das zeige er den Studierenden jedoch nicht. "Weinen tue ich nur, wenn ich allein bin", sagt er. Während des Kriegs habe er einige Menschen verloren, die ihm nahegestanden seien. Aber momentan habe er keine Zeit, darüber nachzudenken.
"Nach dem Krieg werde ich traumatisiert sein und Depressionen haben", sagt Mylovanov nüchtern. Er habe in den letzten Monaten das Gefühl für Gefahr verloren. "Wenn es dir egal wird, dass du Bombeneinschläge in der Nähe hörst, dann fangen die psychischen Probleme an."
Ukrainer:innen auch nach dem Krieg depressiv?
Er sei überzeugt, dass viele in der Ukraine eine Depression erleben würden, sobald sie von Russland befreit wären. Erst danach komme die emotionale Aufarbeitung, die Jahrzehnte andauern werde. "Mein Plan ist, nach dem Krieg für eine Zeit ganz weit wegzufahren. In die Natur. Weg von allem", sagt er.
Doch zuerst gehe es darum, den Krieg gegen Russland zu gewinnen. Mylovanov sagt: "Wir sind seit 300 Jahren immer wieder eine Region Russlands gewesen. Uns jetzt zu befreien, ist vielleicht unsere letzte Chance." Für dieses Ziel nehmen die Ukrainer schon bald 300 Tage Krieg auf sich – ohne ein schnelles Ende in Sicht.
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