Eigentlich sollte die Sache einfach sein: Der Spitzenkandidat der Partei mit den meisten Stimmen bei der Europawahl wird EU-Kommissionspräsident.
Dieses System kam 2014 erstmals zum Einsatz und brachte dem Luxemburger Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) den Top-Job in der EU ein. Fünf Jahre später hofft nun der CSU-Politiker und EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber, so Kommissionspräsident zu werden. Er wäre der erste Deutsche in mehr als 50 Jahren im höchsten Amt der EU.
Doch so einfach ist es nicht. Denn innerhalb der EU besteht keine Einigkeit, wie man ins höchste Amt des Staatenbundes kommt.
Zwar ist das Europaparlament für das Spitzenkandidaten-System, es wählt auch den Kommissionspräsidenten mit absoluter Mehrheit.
Den Kandidaten für diese Wahl aber bestimmt der Europäische Rat, bestehend aus den EU-Staatschefs. Und viele von ihnen wollen selbst beschließen, wer Präsident der Europäischen Komission wird.
Das Rennen um das Amt des EU-Kommissionspräsident gleicht so mehr der Fantasy-Serie "Game of Thrones": Es gibt zahlreiche Kandidaten für den Thron. Und am Ende entscheiden womöglich die Ränkespiele hinter verschlossenen Türen, wer der Sieger ist.
Schon beim EU-Gipfel im rumänischen Sibiu am vergangenen Donnerstag dürften die Staatschefs über die brisante Personalie gesprochen haben. Wie viel Diskussionsbedarf es dabei gibt, machte die Ankündigung von EU-Ratschef Donald Tusk klar: Es wird am 28. Mai, unmittelbar nach der Europawahl, einen Sondergipfel geben, um über die Führungsjobs in der EU zu reden.
► Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte in Sibiu: Sie steht zu Manfred Weber.
► Widerstand kommt von Alexis Tsipras, linker Ministerpräsident von Griechenland. Aber auch der französische Präsident Emmanuel Macron ist gegen Weber. Am Ende könnte das dazu führen, dass ein Landsmann von Macron noch Kommissionspräsident wird.
Diese Kandidaten spielen mit im "Game of Kommissionspräsident":
Der bayerische Politiker ist überzeugter Europäer – und derzeit Fraktionschef der EVP im Europaparlament. Erfahrung mit der EU hat er also zur Genüge.
Aber hat er auch genügend Unterstützer?
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, immer noch Teil der EVP, brach jüngst mit Weber. Auch bei den Grünen ist der CSU-Mann umstritten, vor allem auch, weil er in ihren Augen zu lange brauchte, um sich klar von Orban zu distanzieren. Ob es Weber gelingt, eine klare Koalition im Europaparlament zu formen und seinen Anspruch auf das höchste Amt der EU so zu unterstreichen, ist derzeit zumindest fraglich.
Macron hält ohnehin nichts vom Spitzenkandidaten-System. Auch Weber kritisierte er in der Vergangenheit. Einen Verbündeten hat Macron im Luxemburger Regierungschef Xavier Bettel, der das Spitzenkandidaten-System in Sibiu eine "dumme Idee" nannte.
Der Niederländer ist der Europa-Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Die müssen sich wie die EVP bei den Europawahlen auf einen herben Verlust an Sitzen einstellen, werden aber laut den Umfragen immer noch locker zweitstärkste Kraft.
Timmermans setzt auf eine "progressive Mehrheit" aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken. Die Chancen für ihn auf den Posten des Kommissionspräsidenten sind überschaubar. Die niederländische Linke verspottet den EU-Abgeordneten als "Hans Brusselsmans".
Vestager ist Wettbewerbskommissarin. Sie machte sich einen Namen als die Politikerin, die sich mit Google und den anderen Tech-Giganten anlegt. Die "New York Times" nannte sie die "bekannteste Reguliererin der Welt".
Die Dänin gehört der Fraktion der europäischen Liberalen (ALDE) an. Die Partei tritt bei der Europawahl ohne Spitzenkandidaten, sondern mit einem Team an, zu deren bekanntesten Köpfen Vestager zählt.
Auch die Partei von Marcon, La République en Marche, tritt unter dem ALDE-Label bei der Wahl an. Die Liberalen können hoffen, drittstärkste Kraft zu werden. Und Vestager muss aufgrund der Unterstützung des französischen Präsidenten auch ins Lager der möglichen Kommissionschef-Kandidaten gezählt werden. Sollte sich der Europäische Rat nicht auf Weber einigen können, wäre Vestagers Nominierung als Kompromiss möglich.
Sein Name taucht immer wieder in den Berichten über die Nachfolge von Jean-Claude Juncker auf: Michel Barnier, bekannt als Chef-Unterhändler für den Brexit.
Das hat drei Gründe: Barnier ist beliebt in Brüssel. Jüngst lobte ein Berater von Macron Barnier im Magazin "Politico" mit den Worten: "Er hat zudem den Vorteil, dass er mehr Europäer als Franzose ist. Er ist eine europäische Persönlichkeit geworden."
Barnier ist außerdem Mitglied der französischen Konservativen und damit der EVP. Das würde seinem Anspruch auf den Kommissionsposten Nachdruck verleihen.
Der dritte Grund ist ein möglicher Kuhhandel zwischen Emmanuel Macron und Angela Merkel. Die deutsche Bundeskanzlerin würde gerne den heutigen Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann in den Chefsessel der Europäischen Zentralbank (EZB) hieven.
Dass dann mit Weber ein weiterer Deutscher eines der höchsten Ämter der EU bekleiden würde, wäre wohl zu viel für Macron. Eine Theorie aus Brüssel besagt daher: Macron könnte Weidmann zustimmen, wenn er dafür den Kommissionschef bestimmen dürfte. Und da könnte er an Barnier denken.
Aber: Deutschland und Frankreich werden die EU-Posten nicht unter sich ausmachen können. Das werden die anderen EU-Staatschef kaum zulassen.
Gegen Barnier spricht zudem, dass das Parlament sich dazu verpflichtet hat, nun einen Kandidaten zu wählen, der als Spitzenkandidat seiner Partei in den Europawahlkampf gezogen ist. Und das hat Barnier nicht getan.
Dieser Überblick zeigt: Das "Game of Kommissionspräsidenten" ist kompliziert. Es gibt noch viele weitere Namen, die in diesem Rennen genannt werden, etwa die Direktorin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde.
Eines aber ist jetzt schon klar: Das Ansehen der EU wird nicht steigen, wenn die EU-Staatschef den höchsten Posten der EU unter sich in einem Hinterzimmer ausmachen.
Die EU würde erheblich davon profitieren, wenn der Weg zur Ernennung des EU-Kommissionspräsidenten transparent und für Wählerinnen und Wähler nachzuvollziehen wäre.
Die Tage nach der Wahl werden zeigen, welcher Kandidat (und welche Methode) das Rennen macht.