
Nigerianische Militärs eskortieren die freigelassenen Schüler aus der Schule.Bild: AP / Sunday Alamba
International
Bei mehreren hundert Eltern in Nordnigeria
setzte am späten Donnerstagabend das Aufatmen ein: Ihre von
Bewaffneten verschleppten Kinder sind nach tagelangem Bangen ihrer
Familien wieder frei. Die erlösende Nachricht kam in den
Spätnachrichten des Staatsfernsehens. Die Jungen waren vor einer
Woche aus der Oberschule in Kankara in der Nordregion Katsina von
Extremisten entführt worden.
"Ich kann es kaum erwarten, meinen Sohn wiederzusehen; uns wurde
gesagt, dass der Gouverneur sie vor ihrer Freilassung erst noch mal
medizinisch untersuchen lassen will", sagte Mustapha Gagariga der
Deutschen Presse-Agentur, bevor er sich auf den Weg aus seinem Dorf
nach Katsina machte. Auch andere Eltern fieberten am Freitag in
banger Erwartung dem Wiedersehen mit ihren Kindern entgegen. Gegen
Mittag trafen sie am Sitz der Landesregierung ein – einige trugen
noch ihre Schuluniformen. Viele von ihnen wirkten angesichts des
Erlebten sichtlich ermattet und traumatisiert.
Boko Haram begründete die Entführung mit einer islamfeindlichen Erziehung
"Ich habe mit einem meiner Söhne telefoniert, er klang sehr
erschöpft", erklärte Salisu Masi, dessen zwei Söhne unter den
verschleppten Schülern waren. Unmittelbar vor deren Freilassung war
noch ein Video in den sozialen Medien des Landes aufgetaucht, das
verängstigt blickende, staubbedeckte Jungen vor einem bewaldetem
Gebiet zeigte. Auf dem mehrminütigen Video war die Stimme eines
Unbekannten zu hören, der an die Adresse der Provinzregierung betont:
"Sie sind bei guter Gesundheit – schaut sie euch an."
In einer Audio-Botschaft hatte die sunnitische Terrorgruppe Boko
Haram die Tat mit einer islamfeindlichen westlichen Erziehung der
Kinder begründet. Bei früheren Entführungen waren die verschleppten
Opfer ebenfalls öffentlich vorgeführt worden, um Forderungen nach
Lösegeld durchzusetzen. Es ist eine wichtige Finanzierungsquelle der
Organisation. Allerdings blieben die Hintergründe der plötzlichen
Freilassung am Freitag zunächst unklar.
Die Terrorgruppe foltert die Kinder und zwingt sie, Hinrichtungen anzusehen
Der Überfall auf die Kankara-Schule mit ihren insgesamt rund 800
Jungen hatte zu Protesten der Bevölkerung sowie Lehrergewerkschaften
und Menschenrechtsorganisationen geführt. Schulen in fünf
Bundesstaaten des westafrikanischen Landes blieben mit Hinweis auf
die Sicherheitslage, aber auch Corona-Bestimmungen geschlossen.
Zu den Taktiken von Boko Haram zählen neben Angriffen auf Schulen
und der Verschleppung von Kindern auch die Rekrutierung und der
Einsatz von Kindersoldaten sowie die Zwangsverheiratung von Mädchen
und jungen Frauen. "Boko Haram foltert Kinder mit Schlägen und
Auspeitschungen und zwingt sie, öffentliche Bestrafungen und
Hinrichtungen anzusehen", schrieb die Menschenrechtsorganisation
Amnesty International nach der Befragung Dutzender geflohener Opfer.
Einen Monat vor der Entführung wurden 110 Menschen brutal getötet
Die Vorgehensweise bei der Attacke war die Gleiche wie einen
Monat zuvor im Bundesstaat Borno, als 110 Männer und Frauen bei der
Ernte brutal getötet wurden. Bewaffnete Männer auf Motorrädern
schossen mit Sturmgewehren in Kankara wild um sich. Im April 2014
hatten sie auf ähnliche Weise aus einer Schule in Chibok im Bundesstaat
Borno 276 Mädchen entführt. Viele werden bis heute noch vermisst.
Der Internationale Strafgerichtshof hatte erst vor einer Woche
die Eröffnung eines Ermittlungsverfahren gegen Boko Haram, aber auch
gegen Nigerias Sicherheitstruppen angekündigt. Es gebe genug
Hinweise, so Chefanklägerin Fatou Bensouda, dass Mitglieder von Boko
Haram schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit begangen hätten. Dazu gehörten unter anderem Mord,
Vergewaltigung, Versklavung, Folter und Geiselnahme.
Nigeria ist in den Top 10 der von Terror betroffenen Länder
Boko Haram, aber auch viele Splittergruppen terrorisieren seit
Jahren Nordnigerias Bevölkerung. In einer gerade veröffentlichten
Studie der Londoner Denkschmiede Verisk Maplecroft landete Nigeria
unter knapp 200 untersuchten Ländern in den Top 10 der am meisten von
Terrorismus heimgesuchten Staaten. Nach Angaben der
Menschenrechtsorganisation Amnesty International sind seit 2012
Hunderte Lehrer, Schüler und Studenten dort getötet oder verwundet
worden. Beide Konfliktparteien begingen Kriegsverbrechen und hofften,
dass diese niemand bemerke.
Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen haben bisher 200.000 Menschen in der Nordwestregion ihr Zuhause verloren. Ihre
Versorgungslage sei schwierig, es drohe eine humanitäre
Katastrophe.
(lfr/dpa)
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