Ungeachtet massiver Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten haben Zehntausende Menschen in Russland gegen die Inhaftierung des Kremlgegners Alexej Nawalny und gegen Präsident Wladimir Putin demonstriert. "Russland ohne Putin!", "Russland wird frei sein" und "Freiheit für alle politischen Gefangenen!" skandierten am Sonntag Menschen bei eisigen Temperaturen und Schneefall in der Hauptstadt Moskau und in mehr als 100 Städten – das zweite Wochenende hintereinander.
Hundertschaften der Sonderpolizei OMON gingen erneut mit Schlagstöcken und teils brutalen Festnahmen gegen die Demonstranten vor. Es gab viele Verletzte.
Menschenrechtler gaben die Zahl der Inhaftierten mit mehr als 4000 landesweit an. Sie kritisierten massive Verstöße gegen das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Besonders hart ging die Polizei demnach in Putins Heimatstadt St. Petersburg vor, wo auch Tränengas und Elektroschocker eingesetzt wurden. Viele Demonstranten riefen "Putin wor!" – zu Deutsch: "Putin ist ein Dieb!", auch weil der Präsident den Menschen demokratische Freiheiten raube. Landesweit kamen auch Dutzende Journalisten, die von den Protesten berichteten, in Polizeigewahrsam.
Unter den Festgenommenen war einmal mehr Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja. Die 44-Jährige hatte zuvor bei Instagram ein Foto von sich auf der Straße veröffentlicht. In einem weiteren Eintrag mit einem Familienfoto kritisierte sie, dass ihr Mann inhaftiert sei, weil er es gewagt habe, den Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok zu überleben. Die zweifache Mutter war bereits bei Protesten vor einer Woche vorübergehend festgenommen worden.
Zudem beklagte Nawalnaja, dass Alexejs Bruder Oleg Nawalny als "Geisel" in Haft genommen worden sei. "Wenn wir schweigen, dann holen sie morgen jeden von uns." Sie warf Putin vor, nach Belieben über das Schicksal von Menschen zu bestimmen – er entscheide, "wer eingesperrt, wer vergiftet wird". Bei Nawalnajas Festnahme kritisierten Unterstützer, dass sie willkürlich bei einem einfachen Spaziergang auf der Straße von der Polizei gefasst und abgeführt wurde, wie der Internet-Kanal Doschd zeigte.
In Moskau versammelten sich nach einer Sperrung der Innenstadt an verschiedenen Punkten Menschen, die Protestzüge bildeten. Ein Zug mit Tausenden zog zum Moskauer Untersuchungsgefängnis Nummer eins – der im Volksmund so bezeichneten Matrosenstille. Dort sitzt Nawalny in Haft. "Otpuskaj!" – zu Deutsch: "Freilassen!" – riefen die Menschen. Die Sicherheitskräfte hatten die Zufahrten zum Gefängnis gesperrt. Es kam zu einzelnen Zusammenstößen der Polizei mit Protestierern. Der Ort galt als der am stärksten bewachte in Moskau.
Nawalnys Team, das die Proteste teils über die sozialen Netzwerke steuerte, erklärte, dass Nawalny die Rufe seiner Unterstützer in seiner Zelle hören solle. Viele Menschen riefen: "Freiheit für Alexej Nawalny!". Trotz Drohungen der Polizei waren auch in anderen russischen Städten Menschen zu Tausenden auf den Straßen. In Jektarinburg am Uralgebirge etwa waren es mehr als 10.000 Menschen, wie Abgeordnete der Stadt berichteten. Der ehemalige Bürgermeister Jewgeni Roisman sagte, dass es deutlich mehr Menschen gewesen seien als am Samstag vor einer Woche.
Die Menschen protestierten außerdem gegen Korruption, Justizwillkür und die Unterdrückung Andersdenkender unter Putin. Der Politologe Gleb Pawlowski meinte, dass die Aktionen am Sonntag größer gewesen seien als vor einer Woche. Der Machtapparat unterschätze die Proteststimmung im Land. "Das Bild ändert sich." Themen für die Menschen seien auch die soziale Ungleichheit und die wachsende Armut, darunter die geringen Renten.
Die Behörden hatten prominente Vertreter von Nawalnys Team schon im Vorfeld festgenommen. Die Hoffnung des Machtapparats, durch die Inhaftierung der führenden Köpfe der Opposition die Proteste zum Erliegen zu bringen, erfüllten sich nicht, wie zahlreiche Kommentatoren immer wieder betonten.
Die Proteste hatte zunächst auch ein neues Enthüllungsvideo von Nawalnys über einen riesigen Palast am Schwarzen Meer angeheizt, der Putin zugeschrieben wurde. Am Wochenende meldete sich nach zwei Wochen ein als Putin-Vertrauter geltender Unternehmer zu Wort und erklärte, er sei der Eigentümer des luxuriösen Anwesens.
"Stellen Sie sich auf Proteste an jedem Wochenende ein", sagte der Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, Alexej Wenediktow, einer der profiliertesten Beobachter, der auch im Kreml geschätzt wird. Es gehe bei den Demonstrationen nicht nur um Freiheit für Nawalny. Es handele sich um Proteste gegen Ungerechtigkeit. Experten betonen, dass der Machtapparat die russische Justiz zunehmend instrumentalisiere, um politische Andersdenkende mundtot zu machen.
Der Putin-Gegner Nawalny sitzt seit seiner Rückkehr nach Russland vor zwei Wochen eine 30-tägige Haftstrafe ab, weil er während seines Aufenthaltes in Deutschland gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben soll. In Deutschland hatte sich Nawalny fast fünf Monate von dem Nowitschok-Anschlag erholt. Der russische Strafvollzug wirft ihm vor, in der Zeit gegen Meldeauflagen bei Behörden verstoßen zu haben. Bei einem an diesem Dienstag angesetzten Prozess soll ein Gericht darüber entscheiden, ob Nawalnys frühere Bewährungsstrafe nachträglich in echte Haft umgewandelt wird.
Nawalnys Team hat neue Proteste angekündigt, sollte Nawalny am 2. Februar zu einer Haftstrafe verurteilt werden. Das Vorgehen der russischen Justiz steht in westlichen Ländern in der Kritik. Die USA, die EU und die Bundesregierung haben mehrfach die Freilassung Nawalnys und seiner friedlichen Unterstützer verlangt.
Wegen der Vergiftung mit dem international geächteten Nervengift Nowitschok hatte die EU bereits Sanktionen gegen ranghohe russische Funktionäre verhängt. Es drohten bei einer Gefängnisstrafe für Nawalny und den Verstößen gegen Menschenrechte weitere Sanktionen.
"Die USA verurteilen die anhaltende Anwendung brutaler Taktiken gegen friedliche Demonstranten und Journalisten durch die russischen Behörden in der zweiten Woche in Folge", teilte US-Außenminister Antony Blinken am Sonntag auf Twitter mit. Das russische Außenministerium wies dies als unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten zurück.
(lfr/dpa)