Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD).Bild: reutse-Pool / Fabrizio Bensch
International
750 Milliarden Euro will die EU-Kommission gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise mobilisieren. Ein gewaltiger Plan – mit erheblichem Streitpotenzial in der Europäischen Union.
Es ist eine beispiellose, eine historische Krise – darüber zumindest scheinen die 27 EU-Staaten einig zu sein.
Bundeskanzlerin Angela Merkel nennt die Corona-Pandemie und ihre
Folgen die größte Herausforderung in der Geschichte der Europäischen
Union. Massenarbeitslosigkeit, Pleitewellen, soziales Elend, eine
Spaltung der EU, all das scheint nicht ausgeschlossen.
Die Staatengemeinschaft will eine gemeinsame Antwort, doch da ist es
mit der Einigkeit rasch vorbei. An diesem Freitag beraten Merkel und
ihre EU-Kollegen bei einem Videogipfel erstmals über den
Milliardenplan, mit dem die EU-Kommission die europäische Wirtschaft
wieder beleben und gleichzeitig modernisieren will. Aber wie die 27
in absehbarer Zeit zu einer einstimmigen Entscheidung kommen wollen,
ist völlig unklar. Die Ausgangslage sieht aus wie ein
Tausend-Teile-Puzzle, das jemand großzügig über den Wohnzimmerteppich
verteilt hat.
Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
Bild: watson
Worüber wird verhandelt?
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte Ende Mai ein Paket
mit zwei Elementen vorgeschlagen: Gegen die Krise soll ein
750-Milliarden-Euro-Programm namens "Next Generation EU" helfen, das
über Kredite finanziert werden soll. Dieser Wiederaufbauplan soll in
den nächsten EU-Haushaltsrahmen für die Jahre 2021 bis 2027
eingebettet werden, der ebenfalls noch nicht steht. Dafür schlägt von
der Leyen einen Umfang von 1,1 Billionen Euro vor. Insgesamt geht es
also um 1,85 Billionen Euro für die nächsten Jahre.
Wie soll das Geld verteilt werden?
Die Kommission will 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an die
Mitgliedsstaaten geben – das heißt, die Empfänger müssten dieses Geld
nicht zurückzahlen. Weitere 250 Milliarden Euro sollen als Kredite
vergeben werden können. Für den Großteil des Geldes hat die
Kommission einen Verteilschlüssel mit dem Ziel erarbeitet, die von
der Pandemie am schlimmsten getroffenen Staaten am meisten zu
unterstützen. So sind allein 173 Milliarden Euro Zuschüsse und
Kredite für Italien und 140 Milliarden Euro für Spanien vorgesehen.
Deutschland käme auf 28,8 Milliarden Euro, ausschließlich Zuschüsse,
Frankreich auf knapp 39 Milliarden Euro.
Sind Auflagen geplant?
Ja. Um das Geld müssen sich die Staaten nach Vorstellungen der
Kommission mit konkreten Plänen bewerben. Zudem sollen die Empfänger
zusagen, sich an wirtschaftspolitische Empfehlungen der Kommission zu
halten. Und das Geld soll so eingesetzt werden, dass übergeordnete
EU-Ziele erreicht werden, nämlich Klimaschutz, Digitalisierung und
die Modernisierung der Wirtschaft.
Worüber wird gestritten?
Über alle zentralen Punkte. Einige Mitgliedsstaaten haben nach
Angaben aus EU-Kreisen immer noch ein Problem mit von der Leyens
Grundidee, als Kredit aufgenommenes Geld als Zuschüsse zu verteilen.
Denn das bedeutet, dass die 27 Staaten die Schulden gemeinsam über
Jahrzehnte tilgen müssen. Zudem geht es um den Umfang des
Wiederaufbauplans, um den Verteilschlüssel und die Bedingungen, die
die Empfänger erfüllen müssen.
Einige Mitgliedsländer wollen, dass das Geld schneller fließt als
geplant – nicht mit jahrelangem Vorlauf, sondern in der akuten Krise.
Andere pochen darauf, dass die Rückzahlung der Schulden schneller
beginnt als von der Kommission vorgeschlagen, nicht erst ab 2028 und
bis 2058. Soweit zu dem 750-Milliarden-Plan, der für die EU etwas
völlig Neues wäre. Hinzu kommen die üblichen Streitpunkte beim
normalen Haushaltsrahmen, nämlich Umfang, Verteilung der Gelder und
Beitragsrabatte.
Wer will was?
EU-Beamte betonen, kein Staat habe den Plan rundweg vom Tisch
gewischt, was schon mal positiv sei. Die große Mehrheit der 27 könne
mit dem Grundkonzept leben und habe nur Bedenken bei einzelnen
Punkten. Ein klarer Einspruch gegen die Verteilung von Zuschüssen kam
jedoch von den "vier Sparsamen", nämlich Österreich, Schweden,
Dänemark und den Niederlanden. Finnland hat ebenfalls ernste
Bedenken, ebenso Ungarn. Wie strikt die Ablehnung ist und ob man sie
überwinden kann, werde sich beim Videogipfel weisen, hieß es am
Donnerstag. Klar ist: Am Ende müssen alle 27 einer Lösung zustimmen,
jeder hat ein Vetorecht.
Wie ist die deutsche Position?
Bundeskanzlerin Merkel hatte schon vor der Kommission gemeinsam mit
dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron einen eigenen
Wiederaufbauplan im Umfang von 500 Milliarden Euro vorgelegt. Das
Geld sollte ebenfalls über Schulden finanziert und ebenfalls als
Zuschüsse verteilt werden. Das Grundprinzip des Kommissionsvorschlags
hat Deutschland also akzeptiert. Öffentlich infrage stellt
Finanzminister Olaf Scholz den Umfang der Brüsseler Pläne: Er pocht
auf eine Summe von 500 Milliarden statt 750 Milliarden Euro.
Welche Kosten kommen auf Deutschland zu?
Bei einer Summe von gemeinsam zu tilgenden Schulden von 500
Milliarden Euro wird der deutsche Anteil bei der Tilgung auf etwa 135
Milliarden Euro geschätzt. Grundlage der Berechnung ist der künftige
deutsche Anteil am EU-Haushalt. Er dürfte im kommenden Jahr von rund
21 auf etwa 25 Prozent steigen. Hauptgrund dafür ist der Wegfall des
Beitragszahlers Großbritannien nach dem Brexit.
Die Bundesregierung hat ausgerechnet, dass die jährlichen Zahlungen
aus Berlin an Brüssel bei einer Umsetzung des Kommissionsvorschlags
um 46 Prozent steigen könnten – ein Plus von 13 Milliarden auf 41
Milliarden Euro brutto – also abzüglich dessen, was an EU-Geldern
nach Deutschland zurückfließt.
Wie schnell wird es einen Kompromiss geben?
Merkel hofft auf eine Einigung noch im Juli, aber das ist alles
andere als sicher. Nach dem Videogipfel am Freitag plant EU-Ratschef
Charles Michel für Anfang oder Mitte Juli ein persönliches Treffen
der Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Ob dann schon ein
Durchbruch gelingt, weiß niemand.
(lin/dpa)
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