Der russische Präsident Wladimir Putin. Bild: reuters / SPUTNIK
International
Wladimir Putin sichert sich mit einer umstrittenen Verfassungsänderung die Macht für die Ewigkeit. Eine Volksabstimmung soll die Operation Machterhalt vollenden. Wohl aus Panik, dass das noch schiefgehen könnte, stößt der Kreml nun sogar Drohungen aus.
Mit aller Kraft klammert sich Wladimir Putin an die
Macht. Nach mehr als 20 Dienstjahren will sich der 67-Jährige nun per
Verfassungsänderung weitere Amtszeiten als Präsident sichern. Damit
könnte er die Rohstoff- und Atommacht weiter führen. Noch 16 Jahre.
Bis 2036. "Posor!" – auf Deutsch "Schande" – kommentierte Russlands
prominentester Blogger Juri Dud die Pläne.
Die Abstimmung über die von Putin veranlasste größte
Grundgesetzänderung der russischen Geschichte ist für den 1. Juli
angesetzt. Wegen der Corona-Pandemie, damit ausreichend Zeit ist,
läuft der Urnengang schon von diesem Donnerstag an.
Kremlgegner rufen zum Boykott auf
Der Star Dud, der ein Millionenpublikum hat, veröffentlichte ein
Video von 2008, in dem Putin noch erklärte, dass er anders als viele
andere Politiker nicht süchtig nach Macht sei. Doch nun ändere er
selbst die Verfassung, um nicht gehen zu müssen, ärgert sich
33-jährige Dud. Dabei hat Putin nicht nur einmal versprochen, die
1993 unter Präsident Boris Jelzin angenommene Verfassung nicht
anzurühren. Kremlgegner sprechen von einem "Verfassungsumsturz" und
rufen zum Boykott oder zur Abstimmung mit Nein auf.
Einige zentrale Punkte:
- Versprochen wird eine Rentenanpassung mindestens einmal im Jahr.
- Erstmals verbrieft wird, dass eine Ehe nur zwischen Mann und Frau möglich ist. Putin hatte versichert, dass es gleichgeschlechtliche Ehen nicht geben werde, solange er regiere.
- Verbrieft wird nun, dass Russland auf seinem Gebiet Rechtsnachfolger der Sowjetunion ist und das Anfang der 1990er zerfallene Land auch in internationalen Organisationen vertritt.
Doch die Kritiker bringen viele Argumente gegen die Verfassung:
- Hauptkritikpunkt ist ein eigens für Putin eingefügter Passus, wonach seine bisherigen vier Amtszeiten trotz der maximal zwei zulässigen nicht gezählt werden.
Die Verfassungsexperten des Europarates, in dem Russland Mitglied
ist, befürchten, dass sich das Land künftig nicht mehr an Urteile des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte halten könnte. Schon
jetzt stört sich die russische Politik immer wieder an den Strafen.
Insgesamt erhält der Präsident nach Meinung von Experten noch mehr
Machtbefugnisse als jetzt schon. Sie halten das ganze Verfahren der
Grundgesetzänderung ohne einen Verfassungsausschuss für illegal.
Während die dominanten Staatsmedien ausschließlich für die Verfassung
werben, bleibt den Kritikern nur das Internet. Straßenproteste sind
wegen der Corona-Pandemie verboten. Die Behörden locken zudem offen
mit Gewinnspielen und Preisen die Wahlberechtigten an die Urnen. Der
Kreml überlässt nach Meinung von Wahlbeobachtern nichts dem Zufall,
damit das Vorhaben erstens ausreichend Bürger mobilisiert und
zweitens auch die nötige Zustimmung bringt. Mehr als 110 Millionen
Menschen sind zu dem Referendum aufgerufen.
Menschenmassen werden erwartet
Verbreitet ist allerdings die Kritik, Putin setze die Menschen mit
der Volksabstimmung in der Corona-Pandemie mit extrem hohen
Infektionszahlen in Russland unnötig der Gefahr aus. Der Kreml meinte
dazu, die Stimmabgabe sei nicht gefährlicher als ein Einkauf. Mit
panischer Stimmung im Machtapparat erklärten sich Kommentatoren
zuletzt dagegen Warnungen von Funktionären, in Russland breche alles
zusammen, wenn die Verfassungsänderung platze.
Und auch Putin wurde deutlich: Wenn das Volk nicht zustimme, dann sei
bald die Regierung nicht mehr arbeitsfähig, weil dann die Suche nach
einem Nachfolger für ihn beginne.
"Wir müssen arbeiten, keine Nachfolger suchen."
Wladimir Putin
Dabei waren Putins Zustimmungswerte schon vor der Corona-Krise im
Sinkflug. Seit Wochen nimmt die Proteststimmung zu, weil die
Reallöhne rasch sinken, die Arbeitslosigkeit und mit ihr die ohnehin
große Armut zunehmen. Weil Putin dagegen in Fernsehansprachen
erklärt, wie erfolgreich Russland im Kampf gegen die Pandemie sei,
werfen ihm sogar langjährige Anhänger Realitätsverlust vor.
Zugesichert hat Putin, die im Eiltempo vom Parlament angenommene und
von ihm unterzeichnete Verfassung erst in Kraft zu setzen, wenn das
Volk zustimme. Das Referendum sei für ihn wichtig, um sich auf eine
Mehrheit in der Bevölkerung zu berufen, sagte Andrej Kolesnikow von
der Moskauer Denkfabrik Carnegie Center. "Die Abstimmung soll die
Annullierung seiner bisherigen Amtszeiten legalisieren."
Kolesnikow sieht die Verfassung als Mix aus sowjetischen
Propaganda-Klischees, unbeholfenen patriotischen Banalitäten und
ultrakonservativen Ansichten. "Diese seltsame Verbindung aus Lug und
Selbstbetrug wird kaum zu einer Stabilisierung der Zustimmungswerte
für die Machthaber führen", meint er.
Wahlbeobachter haben ein Auge auf Russland
Wahlbeobachter machen sich indes keine Illusionen. Sie beklagten
schon nach Präsidenten-, Parlaments- und Regionalwahlen stets
Manipulationen. Diesmal, sagen sie, sei schon wegen der vielen
Abstimmungstage bis 1. Juli kaum eine Kontrolle möglich. Zugelassen
ist teils auch eine elektronische Abstimmung im Internet.
Experten der unabhängigen Wahlbeobachter-Organisation Golos
kritisierten massive Verstöße gegen die Freiheiten der Wähler. Der
Staat ignoriere mit seiner überall präsenten Agitation und Propaganda
die Prinzipien der politischen Neutralität. Verhindert werde
Meinungsvielfalt. Zudem kritisierte Golos den Druck auf
Staatsbedienstete. Lehrer und Ärzte etwa würden unter Androhung von
Nachteilen im Job dazu gedrängt, ihre Stimme abzugeben.
(lin/dpa)
Schon seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion um die Wehrpflicht wieder Fahrt aufgenommen. Die Ampel änderte während ihrer Regierungszeit nichts am aktuellen System. Durch die Neuwahlen könnten aber bald schon wieder junge Menschen verpflichtet werden.