Öl-Ressourcen in Syrien. Bild: imago images/Le Pictorium
International
Im Syrien-Konflikt droht ein Triumph der Despoten. Der Bürgerkrieg scheint entschieden, das Ringen um die Kriegsbeute hat begonnen. Aber welche Interessen verfolgen die Großmächte? Ein Überblick.
30.10.2019, 11:1130.10.2019, 11:15
patrick diekmann / t-online.de
Ein Panzer fährt langsam durch die Lücke zwischen zwei Häusern hindurch. Er schießt auf ein unbekanntes Ziel. Sand wirbelt auf, bewaffnete Männer mit Maschinengewehren rufen sich etwas zu. Gebaut wurde der Panzer in Deutschland, im Einsatz ist er für die türkische Armee im Norden Syriens.
Derartige Bilder und Videos gehen aktuell aus der Nähe des kleinen syrischen Ortes Tell Tamer um die Welt. Aufgenommen wurden sie von türkischen Kriegsberichterstattern oder von Rebellen, die von der Türkei unterstützt werden.
Tell Tamer ist ein Mahnmal für die Gräuel des syrischen Bürgerkrieges. Mit dem Konflikt begann in dem Ort der Exodus der Bevölkerung. Vorher lebten hier knapp über 7000 Menschen, größtenteils Assyrer. Als die Terrormiliz IS im Jahr 2014 vorrückte, konnten viele Einwohner fliehen, andere wurden von den Islamisten entführt. Die Menschen in Tell Tamer suchten Hilfe bei der kurdischen Miliz YPG. Diese verteidigte sie gegen den IS, seither ist der Ort kurdisch geprägt.
Bild: t-online
Aber seit Beginn des türkischen Angriffs auf die kurdischen Milizen im Norden Syriens ist auch die Armee von Baschar al-Assad wieder in Tell Tamer, auf Einladung der Kurden. Der Ort ist knapp 40 Kilometer entfernt von der syrisch-türkischen Grenze und deshalb außerhalb der von Russland und der Türkei vereinbarten Sicherheitszone, die 30 Kilometer von der türkischen Grenze ins Landesinnere gehen soll. Trotzdem wird geschossen, obwohl die kurdischen Milizen aus der künftigen Sicherheitszone abgezogen sind. Dies bestätigten Ankara und Moskau am Montag, die Feuerpause sollte weiter gelten.
An der türkisch-syrischen Grenze patroullieren bereits die russische und türkische Militärpolizei gemeinsam, in der Zone werden Militärposten errichtet. Aber auch im Südosten des Kurdengebietes hat sich etwas verändert: Hier sichern US-Truppen Teile der syrischen Ölfelder. Das Verhalten der Großmächte in der Region gibt einen Ausblick auf die Zeit nach dem Krieg. Aber eine Nachkriegsordnung ist noch nicht in Sicht, Syrien ist immer noch ein Spielball der Großmächte. Nun geht es den Protagonisten darum, ihre Interessen zu sichern.
Es sind vor allem diese unterschiedlichen Interessen, die eine nachhaltige Lösung in dem Konflikt so schwierig machen. Hier ein Überblick:
Russland
Es ist gerade einmal fünf Jahre her. Der damalige US-Präsident Barack Obama bezeichnete im Jahr 2014 Russland in einer Rede im Zuge der Krim-Krise als Regionalmacht. Im syrischen Bürgerkrieg hat Moskau jedoch, zusammen mit dem Iran, die Wende für das syrische Regime herbeigeführt. Syrien bleibt künftig in der russischen Einflusssphäre, Moskaus Favorit Baschar al-Assad hat schon jetzt die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat seine strategischen Ziele erreicht. Dies kostete hunderttausende Menschenleben. Um Assad im Amt zu halten, ging Russland hohe Risiken ein. Der syrische Machthaber drohte zu verlieren, der Kreml schickte Bomber wie Soldaten und hat seither die Kontrolle im Land und über das Assad-Regime. Doch der Konflikt ist teuer, auch russische Soldaten starben und die russische Luftwaffe bombardierte ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.
Russlands Präsident Wladimir Putin.Bild: imago images/Russian Look
Dementsprechend ist es in russischem Interesse, dass möglichst bald Ruhe einkehrt, nachdem die letzte Rebellenprovinz Idlib eingenommen wurde. Tartus, der einzige Stützpunkt Russlands am Mittelmeer, ist gesichert, im russischen Verständnis hat man sich als Großmacht etabliert. Aber der Kreml handelt auch aus ökonomischen Gründen. Einerseits sollen russische Unternehmen Syrien wieder mit aufbauen, andererseits verspricht man sich durch den Militäreinsatz auf internationaler Bühne mehr Waffengeschäfte.
Putin sieht sich als Sieger in dem blutigen Stellvertreterkrieg. Er will nun einen Dialog zwischen den verschiedenen Interessengruppen im Land moderieren. Die Kontrolle wird sich der Kreml nicht mehr streitig machen lassen. Auch deshalb ist eine europäische Sicherheitszone in Nordsyrien, wie Verteidigungsministerin Annegret Kram-Karrenbauer (CDU) sie vorgeschlagen hat, wohl unrealistisch.
Deutschland und die EU
Kramp-Karrenbauers Vorstoß einer Schutzzone ist demnach lediglich Symbolpolitik. Für Deutschland und die Europäische Union (EU) geht es darum, das Gesicht nicht zu verlieren. Die EU schaute in Syrien lange nur zu, die Mitgliedsstaaten können sich bis heute nicht auf eine gemeinsame Syrien-Politik einigen. Sie wurden vorgeführt, von Putin und dem Nato-Partner Türkei. Niemals zuvor wirkte die europäische Staatengemeinschaft in einem Konflikt so unbedeutend wie im syrischen Bürgerkrieg.
Mit ihrer Idee wollte Kramp-Karrenbauer internationale Handlungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft demonstrieren. Dies kam in einem nahezu entschiedenen Konflikt zu spät und fand auch deshalb kaum internationale Unterstützung.Stattdessen wollte sie innenpolitisch die Stimmen besonders in ihrer CDU beschwichtigen, die schon lange eine größere Verantwortung Deutschlands in der Welt fordern.
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer.Bild: REUTERS
Außerdem war das Risiko einer Beteiligung der Bundeswehr an einer Sicherheitszone berechenbar. Deutsche Unternehmen hätten beim Wiederaufbau des Landes helfen können. Die Frage bleibt, ob die Bundeswehr überhaupt für einen solchen Einsatz aufgestellt gewesen wäre. Gleichwohl: Der kurdisch-geprägte Norden des Landes ist vergleichsweise friedvoll. Wenn nicht gerade die türkische Armee angreift.
Der Syrien-Konflikt zeigte jedoch auch, dass die EU und Deutschland sich sicherheitspolitisch von den USA eigenständiger aufstellen müssen. Denn die Sicherheitslage in Syrien ist angesichts von islamistischem Terror in deutschem und europäischem Interesse. Zumal man auch neue Flüchtlingswellen verhindern möchte.
Die USA
Die Vereinigten Staaten hatten in Syrien keinen klaren Kurs. Schon Barack Obama agierte eher zögerlich und wollte eigentlich vermeiden, US-Bodentruppen einzusetzen. Zunächst schickten die Amerikaner vor allem Waffen an die Gegner von Assad, danach flogen sie Luftangriffe gegen die Terrormiliz IS, auch mit zahlreichen Opfern in der Zivilbevölkerung. Zur Unterstützung der Kurden im Kampf gegen den IS kamen am Ende einige tausend US-Soldaten nach Syrien.
Unter Donald Trump erlebte die Syrien-Politik gleich mehrere Kehrtwenden. Der Einsatz in Syrien ist in der US-Bevölkerung unbeliebt und Trump glaubte innenpolitisch damit zu punkten, wenn er die US-Soldaten nach Hause holt. Er wolle nicht mehr, dass US-Bürger dort im Dreck sterben. Es war Trumps Wahlversprechen, die US-Truppen aus Syrien abziehen.
No Troops, no Problem? US-Präsident Donald Trump.Bild: AP
Doch mit dem Abzug musste Trump warten, bis der IS militärisch besiegt schien. Dann ging es schnell und der US-Präsident löste mit seiner Entscheidung, die Soldaten zu verlegen fast einen Flächenbrand aus. Zum Schaden der USA.
Die US-Regierung ist nun daran interessiert, den Schaden für die Diplomatie einzudämmen. Die USA ließen die kurdischen Milizen, mit denen sie Seite an Seite gegen den IS gekämpft haben, im Stich. Der außenpolitische Schaden dieser Entscheidung ist noch nicht abzusehen, denn die Vereinigten Staaten sind in vielen Konflikten auf der Welt darauf angewiesen, lokale Bündnispartner zu finden.
Der Verrat an den Kurden ist nun auch innenpolitisch für Trump zum Problem geworden, weswegen er darum bemüht ist, den jetzigen Waffenstillstand als Erfolg zu verkaufen.
Schadensbegrenzung ist allerdings aktuell nicht das einzige Interesse Washingtons in Syrien. Kurz nach dem Abzug der US-Truppen beorderte Trump Einheiten zurück in das Bürgerkriegsland, angeblich um die Ölfelder vor dem IS zu schützen, der in der Vergangenheit die Rohstoffe verkaufte. Allerdings ist der IS aktuell von seiner Infrastruktur her dazu nicht in der Lage.
"Es ist eine Schutzbehauptung der Amerikaner, die Öl-Felder vor der IS-Terrormiliz schützen zu wollen", sagte Nahostexperte Michael Lüders dem ZDF. Zwar gebe es im Osten Syriens nach wie vor IS-Kämpfer, aber die wären nicht mehr im Stande, größere Territorien zu besetzen. "In erster Linie geht es darum, Territorium zu besetzen im Wettbewerb mit Russland um die Zukunft Syriens." Auch aus Russland folgten prompt Vorwürfe, dass die USA Öl in großen Mengen verladen und außer Landes bringen würden.
Letztlich scheint klar, dass sich unter Trump ein deutlicher Paradigmenwechsel in der US-Politik vollzogen hat. "America First" ist mit dem früheren Dasein als Weltpolizist nicht vereinbar. Es ist das Interesse der aktuellen Regierung, sich aus möglichst vielen Konflikten zurückzuziehen, aber trotzdem Waffen an Verbündete in Krisenregionen zu verkaufen, Beispiel Saudi-Arabien. Allerdings möchte die amerikanische Regierung ein Jahr vor der nächsten Präsidentschaftswahl auch nicht dafür verantwortlich sein, dass der Nato-Partner Türkei tausende Kurden tötet.
Die Türkei
Deshalb erhöhten die USA vor allem den wirtschaftlichen Druck auf die Türkei. Für deren Präsidenten Recep Tayyip Erdogan war das trotzdem kein Hindernis, seinen Angriff auf die Kurden in Nordsyrien zu forcieren. Das Risiko für die türkische Regierung war hoch, einen langwierigen Krieg kann sich das Land angesichts der aktuell großen wirtschaftlichen Probleme nicht leisten.
Erdogan verfolgte mit seiner Offensive unterschiedliche innen- und außenpolitische Interessen. So griff Erdogan die kurdischen Milizen aus machtpolitischem Kalkül an. Bei den Kommunalwahlen in der Türkei musste seine AKP große Verluste hinnehmen, Istanbul und Ankara werden nun von der oppositionellen CHP regiert. Dies war nur möglich, weil die Opposition in der Türkei vereint aufgetreten ist. Dieses Bündnis will der türkische Präsident durch einen Krieg gegen die Kurden zerstören.
Türkische Soldaten in der syrischen Stadt Ras al Ayn.Bild: DHA
Dieser Schachzug könnte erfolgreich sein. In der Türkei haben die konservative iYi-Partei und selbst die sozialdemokratische CHP nationalistische Tendenzen. Sie werden nicht zulassen, im Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der öffentlichen Wahrnehmung auf der kurdischen Seite zu stehen. Anders ist es bei der pro-kurdischen HDP, die einen Großteil der oppositionellen Kurden im Land vertritt. Demnach spaltet Erdogan die Opposition und lenkt mit einem Krieg von den großen wirtschaftlichen Problemen der Türkei ab.
Die Türkei hat allerdings auch Sicherheitsinteressen in der Region, die türkisch-syrische Grenze dient der PKK als Rückzugsort und die kurdische Miliz ist ihr syrischer Ableger. Für die Angriffe auf die PKK wartete Erdogan allerdings immer so lange, bis er innenpolitisch Nutzen daraus ziehen konnte.
Demnach geht es dem türkischen Präsidenten vornehmlich um Macht und Einfluss. Innenpolitisch sinken seine Zustimmungswerte, außenpolitisch drohte die Türkei nur eine kleine Rolle bei der syrischen Nachkriegsordnung zu spielen. Nun sitzt Erdogan wieder mit Putin an einem Tisch und schwächt auch seinen Gegner Assad. Ein Regimewechsel in Syrien war in türkischem Interesse. Das schlug allerdings fehl.
Die Kurden
Das Ziel der Kurden in Syrien ist weiterhin eine Autonomie, bis hin zu einem Kurdistan als eigene Nation. Doch durch die türkische Offensive haben sie das Assad-Regime eingeladen, mit Truppen in das von ihnen kontrollierte Gebiet zu kommen. Damit gaben sie ihre Autonomie schon ein Stück weit auf.
Deswegen geht es den Kurden gerade darum, ihre Heimat nicht zu verlieren. Erdogan will nahe der türkisch-syrischen Grenze Flüchtlinge ansiedeln, die Kurden müssten wie zuvor in der Provinz Afrin weichen.
Die kurdischen Milizen zogen sich trotzdem aus der Sicherheitszone an der Grenze zurück, militärisch sind sie der Türkei weit unterlegen.
Deshalb ist es zunächst in kurdischem Interesse, internationale Unterstützung für ihr Anliegen zu finden. Das gilt auch für die PKK, die in Deutschland als Terrororganisation gelistet ist. Man verzichtete trotz des türkischen Angriffes bisher auf Terroranschläge oder Entführungen. Dahinter steckt vor allem die Strategie, sich international als die Kraft im Nahen Osten zu präsentieren, die westlichen Werten nahe steht. So auch im Kampf gegen den IS.
Das Assad-Regime
Anders ist es bei Baschar al-Assad. Er ging mit Brutalität im Jahr 2011 gegen die Demonstranten im eigenen Land vor. Dies war der Startschuss für einen Bürgerkrieg mit knapp 400.000 Opfern.
Sein Geheimdienststaat ist auf Repression gegenüber der Bevölkerung aufgebaut. Es gibt Folter und auch in den von der syrischen Armee eingenommenen Gebieten wanderten Bewohner zahlreich ins Gefängnis. Dieses Vorgehen wird der Diktator auch nach einem mutmaßlichen Sieg fortsetzen, mit Rückendeckung aus Russland und Iran.
Das Interesse von Assad besteht vorerst darin, das komplette Land zurückzuerobern. Mit zunehmender Macht wird er versuchen, sich etwas aus der Kontrolle Russlands zu lösen, um selber wieder als Souverän erscheinen zu können.
Moskau sieht Assad als legitimen Herrscher, der entscheiden darf, welche Länder auf syrischem Staatsterritorium agieren dürfen. Auch deshalb ist es unrealistisch, dass die EU, wie von Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen, in Syrien tätig werden kann. Denn der Diktator wird nicht die Länder um Hilfe bitten, die ihn weg haben wollten.
Wie geht es nun weiter in Syrien?
Erwartbar ist, dass Assad mittelfristig die Kontrolle über das ganze Land zurückerhalten wird. Dies macht das Land aber noch nicht regierbar, besonders weil der syrische Machthaber einen so großen Teil seines Volkes für den eigenen Machterhalt geopfert hat. Syrien droht auch nach dem Krieg zum Failed State zu werden.
Aktuell wird in Genf weiter über eine Nachkriegsordnung und eine Verfassung verhandelt. Dies ist auch eine Chance für das Land, wenn alle syrischen Gruppierungen mit einbezogen werden. Aber auch das reicht nicht. Denn für einen Frieden in Syrien müssen vor allem die internationalen Mächte ihre Interessen zügeln.
Tell Tamer ist arabisch und bedeutet übersetzt "Hügel der Datteln". Hier lebten Assyrer, Kurden und Araber vor dem Krieg in Frieden zusammen. Dies könnte auch wieder ein Sinnbild sein. Für die Zukunft Syriens.
Dieser Artikel erschien zuerst bei t-online.de.