Menschen fliehen in Panik vor der Explosion im Hafen von Beirut.Bild: reuters / MOHAMED AZAKIR
International
Der Mann mit den kurzen Haaren und dem
Vollbart hat tiefe Ränder unter den Augen. Vielleicht waren die
vergangenen zwei Tage die schlimmsten, die Dr. Assim al-Hadsch in
seinem Leben durchmachen musste. Seit der fürchterlichen Explosion im
Hafen von Beirut hat er nur zwei Stunden geschlafen. Stattdessen:
Operationen am Fließband im Clemenceau Medial Center unweit der
Detonation. Fast 400 Verletzte wurden eingeliefert, 80 befinden sich
noch in kritischem Zustand: "Ich kann Ihnen sagen: Die Situation ist
katastrophal", sagt der Mediziner mit brüchiger Stimme.
Die gewaltige Explosion hat große Teile der sonst lebendigen
Stadt am Mittelmeer in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Der Hafen
liegt in Schutt und Asche. Die Wucht der Detonation hat auch die
umliegenden Wohngebiete erfasst: Fensterscheiben sind zersplittert,
Schilder und Fensterläden abgerissen, Fassaden zerstört, Autos
umgekippt, Menschen weggefegt. Noch immer sind die Straßen mit
Glassplittern übersät. Auch die Suche nach Opfern geht weiter. Mehr
als 130 Tote und rund 5000 Verletzte wurden bislang gezählt. Die
Zahlen dürften steigen.
"Das ganze Fenster stürzte aufs uns herab"
Libanons Gesundheitssystem stand wegen einer schweren
Wirtschafts- und Finanzkrise und der Corona-Pandemie schon vor der
Explosion am Rande des Kollaps. Ein Großteil der medizinischen Güter
muss aus dem Ausland importiert werden. Es gebe große
Versorgungsengpässe und zu wenig Benzin für die Generatoren, sagt Dr.
Al-Hadsch, medizinischer Direktor des Zentrums. Wegen der
Dollar-Knappheit im Land könnten keine Vorräte mehr gekauft werden:
"Trotz der Schwierigkeiten haben wir es aber geschafft, mit der Lage
fertig zu werden", sagt er.
Schwer getroffen werden auch die mehr als eine Million syrischen
Flüchtlinge im Land, von denen viele seit Jahren in Armut leben, ohne
Aussicht auf Besserung. "Die Explosion hat mich an die schweren
Bombardierungen in meiner Heimatstadt Aleppo erinnert", sagt die 40
Jahre alte Instar al-Salih aus Nordsyrien, die mit ihren fünf Kinder
in einem Raum unweit des Katastrophenortes lebt. "Das ganze Fenster
stürzte aufs uns herab." Die UN warnen zudem, dass auch die
humanitäre Lage im benachbarten Bürgerkriegsland bedroht ist, weil
sie nicht zuletzt über den jetzt zerstörten Beiruter Hafen lief.
Frankreichs Präsident Macron am Donnerstag in Beirut. Der ehemalige Kolonialherr Frankreich unterhält noch immer enge Beziehungen zum Libanon.Bild: ap / Thibault Camus
Aus fast jedem Satz der Menschen im Libanon sind Verzweiflung und
Frust herauszuhören. Viele Libanesen haben zwischen 1975 und 1990
einen blutigen Bürgerkrieg erlebt. Doch selbst sie sagen: Die
Detonation im Hafen ist das Schlimmste, was ihnen widerfahren ist.
"Wir waren schon vorher am Abgrund"
Seit Monaten leidet das Land am Mittelmeer ohnehin unter einer
schweren Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie weiter
verschärft wurde und große Teile der Bevölkerung in Armut getrieben
hat. Die Preise, etwa für Lebensmittel, sind explodiert. Im Juni lag
die Inflation bei 90 Prozent. In den sozialen Medien boten viele in
den vergangenen Wochen ihr Hab und Gut an, um noch irgendwie über die
Runden zu kommen. Und jetzt diese Explosion, diese Zerstörung. Und
kein Geld für einen Wiederaufbau. "Wir sind einfach nur erschöpft",
sagt eine Frau aus Beirut. "Wir waren schon vorher am Abgrund."
Wut auf politische Elite
In die Verzweiflung mischt sich wachsende Wut auf die politische
Elite. Sie brach sich am Donnerstag Bahn, als Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron den Ort der Katastrophe besuchte, begleitet von
seinem libanesischen Kollegen Michael Aoun. "Ihr seid alle Mörder",
schreit eine aufgebrachte Frau von ihrem Balkon. "Wo wart Ihr
gestern?" Später brüllte die Menge: "Aoun, Du bist ein Terrorist."
Vom Hafen in Beirut ist wenig übrig geblieben.Bild: ap / Hussein Malla
Schon im vergangenen Oktober hatten Massenproteste begonnen, die
ein neues politisches System forderten. Die Korruption ist im Libanon
allgegenwärtig und hat maßgeblich zum Verfall des Landes beigetragen.
Die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise geht nicht zuletzt zurück
auf eine Art Schneeballsystem über Staatsanleihen, mit dem sich die
Elite über Jahren hemmungslos an den knappen Ressourcen bedient hat.
Den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete kann der Libanon nur mit
internationaler Hilfe schaffen. Die Schäden gehen in die Milliarden.
Kritiker werfen der Elite vor, sie wolle nur ihren Reichtum retten,
nicht einen Staatszerfall verhindern. Reformen scheiterten auch an
der ohnehin komplizierten Machtverteilung in dem kleinen Land.
Aufteilung der Macht verhindert Fortschritt
Sie geht auf ein Proporzsystem aus dem Jahr 1943 zurück, das
bislang als unantastbar gilt. Aufgeteilt ist die Macht unter den
Konfessionen: Der Präsident muss immer ein Christ sein, der
Regierungschef ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit. Doch
das Land ist auch über die Konfessionsgrenzen hinweg gespalten. Ein
starker Flügel ist eng mit dem schiitischen Iran und Syrien
verbunden, andere richten sich gen Westen oder dem sunnitischen
Saudi-Arabien aus. Und mittendrin sitzt die mächtige Hisbollah.
Die schiitische Organisation, treu mit dem Iran verbunden, bildet
im Libanon einen Staat im Staate. Sie kontrolliert etwa das
Grenzgebiet zum verfeindeten Nachbarn Israel im Süden des Libanons.
Die Hisbollah gehört auch der Regierung an – gegen sie und ihren
charismatischen Anführer Hassan Nasrallah kann keine Politik gemacht
werden.
Das spürten auch die Demonstranten, die in den vergangenen
Monaten auf die Straße gingen. Trupps der Hisbollah liefen mehrfach
auf – eine eindeutige Warnung an die Demonstranten, es mit den
Forderungen nach Reformen nicht zu übertreiben. Die Macht der
Hisbollah, das war die Botschaft, darf nicht angetastet werden. Ohne
Reformen aber dürfte die internationale Gemeinschaft nur zögerlich
Geld geben.
(lau/dpa)
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