Eigentlich ist Joseph Robinette Biden, Kurzname Joe, ein alter Hase der US-Politik. Ab 1973 war er dreieinhalb Jahrzehnte lang Senator. Dreimal hat er für das Amt des Präsidenten kandidiert: 1988, 2008 und 2020. Acht Jahre lang, von 2009 bis 2017, war er Vizepräsident unter Barack Obama und damit der zweitmächtigste Politiker der USA.
Trotzdem hat Joe Biden im fortgeschrittenen Rentenalter noch einmal die Welt überrascht. Er hat sich erst gegen 26 Kandidaten in den Vorwahlen der Demokraten durchgesetzt. Dann hat er den regierenden Präsidenten Donald Trump besiegt. Einen Wahlsieg gegen einen Amtsinhaber hatte zuletzt Bill Clinton im Jahr 1992 geschafft. Besonders stark schnitt Biden bei afroamerikanischen Wählern ab, er bekam bei dieser Gruppe 81 Prozent mehr Stimmen als Trump. Und junge Wähler bis 29 haben Biden 24 Prozent mehr Stimmen beschert als Trump.
Wie hat Joe Biden es geschafft, bei jungen Menschen zu punkten? Und was für ein Präsident wird er sein?
Watson hat darüber mit Evan Osnos gesprochen. Osnos ist Redakteur beim US-Magazin "New Yorker" – und hat eine Biografie über Joe Biden geschrieben. Unter dem Titel "Joe Biden – Ein Porträt" ist sie Ende Oktober auch in Deutschland erschienen.
Das Interview mit Osnos hat zwei Teile. Im ersten sprechen wir mit ihm darüber, was junge Menschen in Joe Biden gesehen haben – und was er gegen den Rassismus in den USA erreichen kann.
watson: Herr Osnos, nach allem, was wir wissen, haben junge Wähler mit ihrer hohen Wahlbeteiligung entscheidend dazu beigetragen, Joe Biden den Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu sichern. Wollten sie nur Trump loswerden – oder gibt es etwas an diesem fast-80-jährigen alten, weißen Mann, das jüngere Wähler angesprochen hat?
Evan Osnos: Ich denke ehrlicherweise, dass sehr viele Menschen einen starken Wunsch verspürt haben, Donald Trump loszuwerden – gerade junge Menschen, die sich von seinen politischen Vorstellungen angegriffen gefühlt haben. Davon, dass Trump ein moralischer Kompass fehlt. Am Anfang war Joe Biden ziemlich unbeliebt bei jungen Wählern. Während des Wahlkampfs war dann aber zu beobachten, dass junge Menschen Biden mehr und mehr als bescheidenen, demütigen, seriösen Menschen wahrgenommen haben.
Sie meinen, viele US-Amerikaner haben diese Eigenschaften bei Biden erst entdeckt? Dabei war er doch schon acht Jahre lang Vizepräsident unter Barack Obama gewesen.
Biden hatte zu Beginn seines Wahlkampfs ein Problem: Die Leute hatten ein fixes Bild von ihm im Kopf. Und das wurde den Veränderungen in seinem Leben nicht gerecht, vor allem denen in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren. Später im Wahlkampf wurde deutlicher, dass die Schicksalsschläge, die Biden erlebt hat, ihn demütiger gemacht haben. Jüngere Menschen haben verstanden, dass Biden echte Empathie für ihre Probleme empfindet – und dass diese Fähigkeit wichtig für sie ist. Und das, obwohl Biden eine Figur aus einem völlig anderen Kapitel der US-Geschichte ist. Biden blickt auf das, was junge Menschen heute durchmachen – und kann eine Art seelischer Nähe dazu aufbauen.
Eine ganz wichtige Gruppe für Bidens Erfolg waren Afroamerikaner. Sie haben ihm schon bei den demokratischen Vorwahlen zum Sieg verholfen – und ihre Stimmen waren entscheidend bei der Präsidentschaftswahl. Biden selbst hat sich in seiner Siegesrede nach der Wahl dafür bedankt. Wie erklären Sie diese außergewöhnlich starke Verbindung zwischen Biden und der afroamerikanischen Community?
Es gibt zwei Teile dieser Erklärung. Der eine ist, dass Biden der Vize des ersten Schwarzen US-Präsidenten war. Und zwar ein bemerkenswert loyaler. Biden hat sich damals nie als der ältere, erfahrenere Politiker inszeniert und irgendeine Distanz zu Obama aufgebaut. Biden hat sich als enthusiastischer Diener gezeigt und am Erfolg der Präsidentschaft Obamas gearbeitet. Schwarze Aktivisten haben mir erzählt, dass das für sie sehr wichtig war. Dass man damals sogar an Bidens Körpersprache habe erkennen können, dass er sich für Obamas Erfolg einsetzte.
Und der zweite Teil der Erklärung?
Cornell William Brooks, ein knapp 60-jähriger afroamerikanischer Bürgerrechtsaktivist, hat mir gesagt, dass Schwarze Wähler in seinem Alter bei ihren Wahlentscheidungen "kompromisslos pragmatisch" seien. Und dass sie sich einfach nicht sicher genug fühlten, um für irgendeinen Kandidaten mit linken Visionen zu stimmen – der aber keine Chance hatte, Präsident zu werden. Brooks sagte mir: "Wir sind buchstäblich nicht sicher".
Er nannte mir ein krasses Beispiel: Im Juni 2015 – in dem Monat, in dem Donald Trump seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gab – erschoss ein rassistischer Geisteskranker in Charleston in South Carolina neun Besucher einer Messe in einer afroamerikanischen Kirche, während sie beteten. Diese zwei Ereignisse seien im kollektiven Gedächtnis der Afroamerikaner miteinander verflochten. Deswegen haben Schwarze Wähler gesagt: Wir können es uns nicht leisten, ein Risiko einzugehen. Und sie haben Joe Biden unterstützt, weil er eine sicherere Variante war.
Joe Biden reagiert auf Donald Trumps Behauptungen zu Wahlbetrug und auf dessen Weigerung, seine Niederlage einzugestehen, bisher betont ruhig. Er sagt immer wieder, dass das am Ende gut ausgeht. Ist das nur Bidens Kommunikationstaktik – oder ist er davon wirklich überzeugt?
Ich weiß aus meinen Recherchen, dass er davon wirklich überzeugt ist. Das liegt daran, dass es für Donald Trump einfach keinen juristischen Weg gibt, das Wahlergebnis zu ändern. Wir beobachten da gerade ein trauriges, verworrenes politisches Schauspiel. Dieses Schauspiel zieht das Land in Trumps Schlepptau durch einen emotionalen Sumpf. Aber es hat keine echten Auswirkungen.
Biden ist seit Jahrzehnten in der Politik. Er begreift den Unterschied zwischen einem Trick und einer echten Strategie. Was Trump jetzt tut, ist ein Trick. Biden verhält sich gerade so wie mit einem Mitbewohner, der gerne einen auf Drama macht und Konflikte inszeniert. Solchen Menschen kann man entweder Kontra geben und die Lage eskalieren lassen – oder die Person in ihrer eigenen Unruhe isolieren. Genau das tut Biden gerade. Ich denke, er versucht uns allen zu versichern, dass wir Trumps Wutanfälle nicht so ernst zu nehmen brauchen.
Sie halten die Sorgen mancher Menschen in Deutschland oder den USA, dass Trump einen Staatsstreich versucht, also für überzogen.
Es ist berechtigt, sich Sorgen zu machen und deprimiert darüber zu sein, dass jemand überhaupt die Möglichkeit bekommt, solche Theorien in Umlauf zu bringen. Aber wenn man die Lage ruhig analysiert, wird klar: Joe Biden wird ab dem Mittag des 20. Januar 2021 Präsident der USA sein.
Bemerkenswert an Ihrer Biografie über Joe Biden ist die Reihe persönlicher Tragödien, die Sie beschreiben. Sie ziehen sich wie ein Faden durch Bidens Leben: vom Unfalltod seiner ersten Frau und seiner Tochter im Jahr 1972, als Biden gerade zum Senator gewählt worden war über 1988, als er selbst fast an einem Aneurysma gestorben wäre – bis zum Tod seines Sohns Beau im Jahr 2015. Wie wird sich diese Leidensgeschichte auf Joe Bidens Regierungsstil auswirken?
Biden hat einen stark ausgeprägten Sinn dafür, dass ein ganz normaler Tag im Leben plötzlich in sich zusammenstürzen kann. Wer persönliche Tragödien nicht erlebt hat, der kennt das nur aus Filmen oder Büchern. Aber wenn es Dir selbst passiert ist, dass Du an einem Tag aufwachst und alles ist gut – und am Ende dieses Tages ist alles, was Dir Halt gegeben hat, verschwunden – dann verändert Dich das psychisch. Es verändert Dich als Bürger, als Mitglied der Gesellschaft.
Joe Biden ist darauf gepolt, Sozialpolitik umzusetzen, die denjenigen Menschen hilft, denen das Leben hart zu schaffen gemacht hat. Er hat als Politiker immer darauf geachtet, die Eigenverantwortung von Menschen zu belohnen, sie zum Fleiß zu ermutigen. Aber die Narben, die das Leben bei ihm hinterlassen hat, haben dafür gesorgt, dass diese Haltung bei ihm jetzt mit einem anderen Gefühl verbunden ist: nämlich dem, dass eigentlich niemand von uns wirklich volle Kontrolle über das eigene Schicksal hat. So sehr uns diese Vorstellung auch gefällt.
Kann ihm diese Eigenschaft dabei helfen, die USA, dieses so heftig gespaltene Land, wieder stärker zusammenzubringen?
Wir können uns nicht darüber hinwegtäuschen, was für eine riesige Herausforderung das ist. Wenn Biden über Einheit spricht, dann ist das in meinen Augen eher ein Ziel als ein Plan. Dieses Problem ist viel größer als das, was irgendein Politiker lösen kann. Die Wurzeln dafür liegen in unserem Wirtschaftssystem, in unserer Medienlandschaft, in der Technologie, die wir nutzen. Sogar der Aufbau unserer Städte ist von dieser Spaltung geprägt: Wir leben heute in viel stärker voneinander abgekapselten Wohnvierteln als noch vor einer Generation. All das trägt zur Spaltung bei.
Auch ein Präsident, der sich dieser Herausforderung wirklich verpflichtet fühlt, kann nur einen Teil des Problems lösen. Bidens Möglichkeiten sind begrenzt. Aber er kann etwas bewirken. Biden glaubt daran, dass die Worte eines Spitzenpolitikers wichtig sind. Wir haben bei Trump ja gesehen, dass er mit seinen Worten die groteske Spaltung in diesem Land befördert hat. Ich denke, dass es teilweise andersrum auch funktioniert.
Eine der hässlichsten Erscheinungsformen dieser Spaltung der USA ist der Rassismus. Für die Black-Lives-Matter-Bewegung sind auch in deutschen Städten junge Menschen auf die Straße gegangen. Was kann Joe Biden als Präsident gegen strukturellen Rassismus tun?
Einer der seltsamen Aspekte der politischen Diskussion über das Thema ist, dass ein alter, weißer Mann bei konservativen US-Amerikanern deutlich mehr bewirken kann als ein dynamischer, junger Afroamerikaner. Das ist pervers, aber wahr. Biden kann über Rassismus wahrscheinlich Dinge sagen, für die Obama eine Menge Gegenwind bekommen hätte.
Biden kann also mutiger über Rassismus sprechen?
Genau. Barack Obama hat oft gesagt, dass er aufpassen musste, was er sagt. Er fürchtete, besorgte US-Amerikaner, denen Diversität Angst macht, würden feindselig auf jede mutige Aussage reagieren. Obama war deshalb oft sehr gemäßigt in seinen Statements über Rassismus. Biden hat da eine andere Position. Er sieht ja so aus wie viele der Menschen, denen Diversität Angst macht. Schauen Sie sich an, was Biden über die Polizei sagt: Er fordert nicht, dass der Polizei die Mittel entzogen werden sollten. Aber er sagt sehr deutlich, dass das Polizeisystem in den USA kaputt ist und reformiert werden muss.