Der Schreibtisch mit Graffiti besudelt, Blätter aus Akten, die auf dem verdreckten Teppich verteilt sind, irgendwo am Boden ein rotes Baseballcap mit der Aufschrift "Make America Great Again": So bildet das Magazin "Time" am Donnerstag auf seinem aktuellen Cover das Oval Office ab, das Büro des Präsidenten der USA im Weißen Haus. Und hinten, an der Fensterseite des Chaos, Joe Biden, der frisch ins Amt geschworene Präsident, wie er gedankenversunken nach draußen blickt.
Es ist natürlich nur eine Überzeichnung. Aber es ist ein starkes Symbol für die gigantische Aufgabe, die vor diesem Präsidenten liegt. Biden muss ein Land anführen, in dessen Hauptstadt am 6. Januar tausende Rechtsradikale das Parlamentsgebäude gestürmt haben. Ein Land, in dem Millionen Menschen überzeugt sind, dass die Präsidentschaftswahl gefälscht wurde und eine betrügerische Elite das Land kontrolliert. Ein Land, in dem Millionen andere Menschen gleichzeitig nicht mehr bereit sind, den systemischen Rassismus und den Raubbau an der Umwelt zu dulden.
Was kann Biden, der mit 78 Jahren älteste US-Präsident der Geschichte, davon bewältigen? Watson hat darüber mit jemandem gesprochen, der den Präsidenten aus nächster Nähe erlebt hat. Julius van de Laar war zunächst 2007 und 2008 als Freiwilliger beteiligt an der Wahlkampagne Barack Obamas, Biden war der Kandidat auf die Vizepräsidentschaft und später Vizepräsident. 2012 hat van de Laar dann als Regional GOTV Director den Bereich Wählermobilisierung für Obama im wahlentscheidenden Schlüsselstaat Ohio geleitet.
Wir haben mit van de Laar darüber gesprochen, wie Biden an Anhänger seines Vorgängers Donald Trump herankommen kann, wie erfolgversprechend seine Klimaschutz-Pläne sind – und warum viele junge Menschen ihn am Ende unterstützt haben.
Herr van de Laar, Sie haben Joe Biden in Ihrer Zeit als Kampagnenmanager für Barack Obama aus der Nähe erlebt. Wie würden Sie ihn beschreiben?
Joe Biden ist jemand, der seine politischen Kämpfe bereits gekämpft hat. Er muss sich selbst nichts mehr beweisen, er hatte bereits jedes Amt inne. Dazu kommt, dass er kein Ideologe ist. Deswegen ist er der richtige Präsident für diesen Moment.
Warum ist es aus Ihrer Sicht jetzt gut, keinen Ideologen als Präsidenten zu haben?
Joe Biden hat so viele Stimmen bei einer Präsidentschaftswahl bekommen wie kein anderer Kandidat vor ihm. Das Problem ist: Die zweithöchste Stimmenzahl aller Zeiten hatte, ebenfalls bei dieser Wahl, Donald Trump. Umfragen zeigen, dass 91 Prozent der Trump-Wähler heute wieder für ihn stimmen würden. Joe Biden war immer der moderate Politiker, der Pragmatiker. Als Senator hat er sich oft zu den republikanischen Kollegen gesetzt. Und so etwas braucht es jetzt.
Linke Demokraten in den USA wie Alexandria Ocasio-Cortez sagen: Die Probleme in den USA sind so groß, dass moderate Lösungen nicht mehr helfen.
Die Grundsatzfrage ist: Wie schafft man Veränderung? Trump hat Veränderung im Hauruck-Verfahren versucht: mit dem Einreisestopp für Menschen aus muslimischen Ländern, mit seinem inhumanen Umgang mit Migranten und deren Kindern. Biden ist ein "Incrementalist" – jemand, der den Wandel Schritt für Schritt in die Wege leitet. Für Dinge die schnell korrigiert werden müssen, nutzt Biden das Dekret, wie er es bereits am ersten Amtstag gezeigt hat.
Wie fanden Sie Bidens Antrittsrede am Mittwoch, in der er sich in Ton und Inhalt maximal von Donald Trump distanziert hat?
Es war eine mitfühlende Rede – und Joe Biden ist eben ein Mensch, der sich in andere hineinfühlen kann. Die Rede war auch wie eine Zusammenfassung seiner Kampagne. Biden ist wegen der rassistischen Ausschreitungen in Charlottesville 2017 als Kandidat angetreten. Er hat seine Kampagne mit einem Video begonnen, in dem er sagte, er wolle die Seele der USA reparieren. Und diese Botschaft hat er seither konsequent durchgezogen.
Was kann denn Biden mit dieser versöhnlichen Rhetorik überhaupt bewirken? Erreicht er wirklich die Millionen Menschen, die nach wie vor von der Lüge überzeugt sind, dass Biden die Wahl gestohlen habe?
Diese Rhetorik kann nur ein Türöffner sein, nur der erste Schritt. Wenn Biden es schafft, das Leben der Menschen konkret zu verbessern, dann kann er zumindest einen Teil der Menschen dazu bringen, wieder zuzuhören und von radikalen Positionen abzuweichen.
Was wäre so eine konkrete Verbesserung, mit der Biden das schaffen könnte?
Zum Beispiel, wenn Biden wie versprochen 100 Millionen Covid-Impfdosen in den ersten 100 Tagen verabreichen lässt und 1400 Dollar wirtschaftliche Hilfe für jeden Haushalt auf den Weg bringt. Aber es ist ohne Frage auch sehr schwierig, das zu schaffen. Ein Grund ist das weite Spektrum innerhalb der demokratischen Partei: Es gibt Linke wie Ocasio-Cortez und sehr Konservative wie Senator Joe Manchin aus West Virginia. Aber Biden und Harris haben einen Vorteil: Beide kennen sich bestens aus im Senat.
Joe Biden ist mit 78 der älteste Präsident, der das Amt je antritt. Nach seinem Sieg haben aber gerade junge Menschen seinen Sieg gefeiert, viele Junge hatten für ihn Wahlkampf gemacht. War das nur der Drang, Trump loszuwerden – oder ist da mehr?
Beides. Ich war Anfang 2020 noch im Bundesstaat Iowa, beim Vorwahlkampf der Demokraten. Bei linken Kandidaten wie Bernie Sanders oder Elizabeth Warren war damals die Begeisterung der jungen Fans deutlich größer. Biden war sicherlich nicht der Wunschkandidat der meisten jungen Menschen. Aber das Coronavirus hat alles geändert – und viele junge Menschen sind zu dem Schluss gekommen, dass sie jetzt den Kandidaten unterstützen müssen, der die besten Chancen gegen Donald Trump hat.
Biden-Biograf Evan Osnos hat watson in einem Interview gesagt: "Jüngere Menschen haben verstanden, dass Biden echte Empathie für ihre Probleme empfindet" Sehen Sie das auch so?
Joe Biden ist tatsächlich einer der empathischsten Politiker, die es gibt. Man muss sich nur das Youtube-Video ansehen, auf dem Biden einem stotternden Jungen Mut zuspricht. Wer das sieht, spürt etwas. Und für ein Land, das gerade so viel Leid erlebt wie die USA in der Coronakrise – 400.000 Tote, Familien, die nicht wissen, wie es wirtschaftlich für sie weitergehen soll – ist ein Mann, der selbst so viel Leid erlebt hat wie Biden, gerade genau der richtige.
Bidens Klimaschutzplan gilt als sehr progressiv. Ist es realistisch, dass die USA mit ihm zum Pionier im Klimaschutz werden?
Den ersten Schritt hat Biden mit der Rückkehr zum Pariser Klimaschutzabkommen getan. Der Rest hängt von den Mehrheiten im Kongress ab. Und das wird schwierig, selbst Obama hat sich sehr schwergetan, obwohl seine Mehrheiten komfortabler waren. Klimaschutz kostet Geld – und momentan fehlt das. Wenn demokratische Abgeordnete jetzt zustimmen, dafür die Staatsverschuldung zu erhöhen, dann werden die Republikaner gnadenlos Wahlwerbung gegen diese Politiker machen. Vielleicht stimmen manche demokratische Abgeordnete und Senatoren aber trotzdem für ambitionierten Klimaschutz – obwohl sie das ihre Wiederwahl kosten kann. Obama hat in seiner Biografie geschrieben, dass manche Demokraten bei seiner Gesundheitsreform das auch getan haben. Hoffentlich passiert so etwas wieder.