Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un ist verschwunden. Seit mehr als zwei Wochen taucht er nicht mehr mit einem öffentlichen Auftritt in den Medien auf. Besonders auffällig war, dass er am 15. April, dem Geburtstag seines Großvaters und wichtigsten Nationalfeiertag in Nordkorea, nicht an den Feierlichkeiten teilnahm.
Inzwischen machen Gerüchte die Runde, Kim Jong-un sei gestorben und man wolle seinen Tod so lange wie möglich verschleiern, um keine Machtkämpfe auszulösen. Unbestätigte Medienberichte besagen, dass der nordkoreanische Anführer sich einer Operation unterzogen hat und noch nicht wieder vollständig genesen ist.
Auch Donald Trump brachte sich in die Diskussion ein und erklärte bei einer Pressekonferenz am Mittwoch, er hätte ein gutes Bild davon, wie es Kim Jong-un gehe, dürfe aber nicht darüber sprechen. "Ich wünsche ihm nur alles Gute. Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich weiß, wie es ihm geht – in gewisser Hinsicht. Wir werden sehen. Sie werden es wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft hören", so Trump. Aber wo sich der nordkoreanische Machthaber aufhält, weiß auch der US-Präsident nicht: "Niemand weiß, wo er ist."
Was bedeutet das Verschwinden von Kim Jong-un – und wer könnte dessen Nachfolge antreten, sollte er nicht wieder auftauchen? Watson hat mit dem führenden Nordkorea-Experten Rüdiger Frank gesprochen, der das für die Außenwelt abgeriegelte Land selbst besucht hat und sich mit der dortigen Politik und Gesellschaft sehr gut auskennt.
watson: Wie erklären Sie sich Kim Jong-uns Verschwinden?
Rüdiger Frank: Darüber kann man letztlich nur spekulieren. Aber Fakt ist, dass er in der Vergangenheit bereits mehrere Male von der Bildfläche verschwunden war und dann wieder gesund aufgetaucht ist. Einmal stellte sich heraus, dass er am Bein operiert werden musste. Es ist aber auch möglich, dass er sich aus Sorge, sich mit dem Coronavirus anzustecken, auf Anraten seiner Ärzte in Selbstquarantäne begeben hat. Sicher wissen wir nichts.
Es gab Spekulationen darüber, dass Kim Jong-un verstorben sein könnte und man seinen Tod verheimlicht. Halten Sie das für denkbar?
Denkbar ist alles, aber ich sehe derzeit keine soliden Anhaltspunkte dafür. In Nordkorea gibt es immer wieder wildeste Gerüchte darüber, dass Menschen hingerichtet wurden. Einige Wochen später tauchen sie quicklebendig wieder auf. Doch gelegentlich bewahrheiten sich solche Nachrichten auch. Es gab etwa 2008 ein Gerücht, dass Kim Jong-uns Vater, Kim Jong-il, einen Schlaganfall erlitten hätte. Zunächst wollte das niemand glauben, doch schließlich stellte es sich als zutreffend heraus. Wir müssen daher immer auf echte Fakten warten, so schwer das manchmal auch fällt.
Ist es nicht auffällig, dass wir aus Nordkorea kaum Reaktionen hören?
Ich war im Februar 2017 just an dem Tag in Nordkorea, als Kim Jong-nam, der ältere Halbbruder von Kim Jong-un, in Kuala Lumpur vergiftet wurde. In Pjöngjang gab es keinerlei Veränderung im Alltagsleben. Wenn jetzt also alles ruhig ist in Nordkorea, dann heißt das nicht viel. Es ist durchaus außergewöhnlich, dass Kim Jong-un am 15. April nicht bei den Feierlichkeiten zum Geburtstag seines Großvaters anwesend war. Es gibt aber nur eine einzige Informationsquelle, die auf seinen Tod hindeutet, und die kann nicht verifiziert werden. Ein paar Gerüchte stammen aus China, aber auch da müssen wir vorsichtig sein, weil es da früher schon Fake News gegeben hat.
Wer profitiert von der aktuellen Abwesenheit von Kim Jong-un?
China, Südkorea und die USA scheinen zu hoffen, dass Kim Jong-un bald wieder gesund auftaucht. Eine Destabilisierung der Lage will niemand. Mit Kim Jong-un an der Spitze ist Nordkorea zwar ein Problem, aber es ist eines, das wir einigermaßen kennen. Wenn Kim Jong-un nicht wiederauftaucht, wird die Lage unberechenbar. Die jüngsten beruhigenden Äußerungen Donald Trumps und der südkoreanischen Regierung zeigen, dass sie versuchen, die Wogen zu glätten.
Was passiert, wenn Kim Jong-un nicht mehr auftaucht?
Aus meiner Sicht sind drei Szenarien denkbar. Das erste ist, dass das System zusammenbricht, es zu einem Machtkampf kommt, die Lage außer Kontrolle gerät.
Darüber sorgt man sich gerade sehr in Südkorea, nicht zuletzt, weil es möglich wäre, dass China zur Wahrung seiner Interessen interveniert. Es handelt sich bei Nordkorea immerhin um eine de facto Atommacht und es liegt in Chinas Interesse, dass die Atomwaffen nicht zur Bedrohung für China werden. In diesem Szenario wäre aber auch denkbar, dass es nach dem Zusammenbruch der Diktatur zu einer Wiedervereinigung mit Südkorea kommt. Das wiederum wäre nicht unbedingt im chinesischen Interesse, weil es eine Ausdehnung des Einflussgebietes der USA bedeuten würde.
Für wie wahrscheinlich halten Sie dieses Szenario, dass das System zusammenbricht ohne Kim Jong-un?
Das halte ich für am wenigsten wahrscheinlich. Mit Kim Il-sung und Kim Jong-il sind 1994 und 2011 bereits zwei nordkoreanische Führer gestorben und es ist nicht zum Zusammenbruch des Systems gekommen. Auch Kim Jong-un ist an die Macht gekommen, ohne darauf vorbereitet gewesen zu sein. Es ist denkbar, dass man auch im Falle des Todes von Kim Jong-un einen Nachfolger präsentiert.
Das wäre also das zweite Szenario. Wer könnte Kims Nachfolger werden?
Ein Familienmitglied. So wurde die Nachfolge bisher geregelt. Die meisten meiner Kollegen nennen Kim Jong-uns Schwester an erster Stelle. Kim Yo-jong ist in den letzten Jahren relativ prominent in den Medien aufgetaucht und den Menschen in Nordkorea bekannt. Sie ist auch Kandidatin des Politbüros und hat daher bereits formal eine Führungsposition inne. Dann gibt es noch Kim Pyong-il, den Halbbruder von Kim Jong-uns Vater, Kim Jong-il. Er war bis vor kurzem noch Botschafter Nordkoreas in Tschechien und ist inzwischen wieder zurückgerufen worden. Ob er allerdings entsprechende Ambitionen hegt und die Unterstützung der Elite in Pjöngjang hätte, ist schwer einzuschätzen. Er war zu lange – fast 40 Jahre – außer Landes.
Was wäre die dritte Alternative?
Alternativ könnte auch ein Kollektiv unter Leitung eines starken Parteiführers die Nachfolge übernehmen. So war es etwa beim Tod von Josef Stalin in der Sowjetunion. Diese Option hatte ich bereits bei Kim Jong-ils Tod 2011 erwartet, lag allerdings daneben. Das wäre meiner Ansicht nach aber immer noch wahrscheinlicher, als dass das System zusammenbricht.
Würde ein möglicher Nachfolger Kim Jong-uns eine mildere Politik anstreben und das Atomprogramm abbrechen?
Das hängt davon ab, wie der Übergang abläuft. Sollte jemand aus seiner Familie die Nachfolge von Kim Jong-un antreten, rechne ich nicht damit, dass sich politisch viel ändert. Das war auch bei den letzten beiden Wechseln nicht der Fall. Es gab immer die Hoffnung, dass sich das Land öffnen würde, aber im Prinzip haben Kim Jong-il und Kim Jong-un die Politik ihrer Vorgänger fortgesetzt.
Sehen Sie eine Chance, dass wir noch eine Wiedervereinigung Koreas miterleben werden?
Absolut. Ich habe als Leipziger die deutsche Wiedervereinigung mit 21 Jahren miterlebt und halte seitdem fast alles für möglich. Die DDR erschien mir damals trotz aller Probleme stabil zu sein, bis sie plötzlich innerhalb von wenigen Wochen im Herbst 1989 in sich zusammengefallen ist. Das ist das Problem solcher Diktaturen, dass sie auf nur einer einzigen Säule beruhen und wenn diese schwach wird, bricht in kürzester Zeit das ganze System zusammen.
Die Südkoreaner warten auf eine solche Gelegenheit und werden ein Angebot machen, sollte das System in Nordkorea ins Wanken geraten – so wie Helmut Kohl es damals gegenüber der Bevölkerung der DDR gemacht hat. Es wäre aber auch denkbar, dass die Elite sich gegen den Kollaps wehrt und die Lage eskaliert, bis hin zu einem zweiten Koreakrieg. Noch ein Grund, warum alle Beteiligten eher auf Stabilität setzen.