Polizisten in der Silvesternacht in Leipzig.Bild: dpa
Interview
04.01.2020, 08:1804.01.2020, 15:05
Die Debatte ist vor allem eines: überhitzt. Nachdem ein Polizist bei Ausschreitungen im linksalternativ geprägten Leipziger Stadtviertel Connewitz verletzt worden war, stehen sich offenbar zwei Lager unversöhnlich gegenüber.
Denn: In dieser Debatte über die Vorfälle in der Silvesternacht gibt es zwei Erzählungen. Die einen kritisieren menschenverachtende Gewalt, die von Linksextremisten ausgehe, andere sehen im Verhalten der sächsischen Polizei eine Mitschuld.
Das ist in Connewitz passiert:
Das LKA ermittelt im Zusammenhang mit den Ausschreitungen in Connewitz wegen versuchten Mordes gegen Unbekannt. Ein 38 Jahre alter Polizist war nach Darstellung der Behörde von teilweise vermummten Tätern angegriffen und schwer verletzt worden. Er wurde daraufhin im Universitätsklinikum Leipzig stationär aufgenommen.
Die Leipziger Polizei hatte noch am Silvestermorgen berichtet, dass der 38-Jährige notoperiert werden musste. Die "taz" berichtete am Donnerstagabend unter Verweis auf Krankenhauskreise, dass man sich in der Uniklinik "verwundert über die Polizeimeldung über eine 'Notoperation' geäußert" habe. Es habe einen Eingriff an der Ohrmuschel des Beamten unter lokaler Betäubung gegeben.
Die Leipziger Polizei hatte daraufhin klargestellt, dass es keine Not-Operation im engeren Sinne gegeben hatte. Jedoch sei in der Silvesternacht dies, also die Not-Operation, der Kenntnisstand gewesen, so Polizeisprecher Andreas Loepki. Eine lebensbedrohliche Verletzung habe aber nicht vorgelegen. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur erklärte Loepki außerdem, dass eine Not-OP „im engeren Sinne“ nicht vorlag. Der Eingriff sei aber dringlich erforderlich gewesen, denn bleibende Schäden seien nicht auszuschließen gewesen. Das sei eine Not-OP im weiteren Sinne.
Hat die Polizei in Sachsen bei der Darstellung der Vorfälle übertrieben und welche Schlüsse sollten aus Connewitz gezogen werden? Über diese Fragen haben wir mit dem Kriminologen und Polizeiwissenschaftler Martin Thüne gesprochen. Thüne hat als Polizist selbst im Schichtdienst gearbeitet und forscht und lehrt heute an der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung. Daneben arbeitet er in der polizeilichen Extremismusprävention. Thüne spricht im nachfolgenden Interview als Privatperson und gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wider.
watson: Die Meinungen zu den Vorfällen im Leipziger Stadtteil Connewitz gehen weit auseinander: Innenminister Seehofer will eine Debatte über linke Gewalt, SPD-Vorsitzende Saskia Esken stellt die Strategie der Polizei infrage und fordert Überprüfungen. Halten Sie eine solche Forderung für gerechtfertigt?
Martin Thüne: Zunächst einmal zeigen doch all diese Äußerungen, dass diese Themen sozusagen "in der Welt" sind und offenkundig ein Bedarf besteht, darüber zu sprechen. Und zwar vonseiten der verschiedensten Akteure: von Politikern, von der Polizei, von Teilen der Gesellschaft. Ob einzelne Forderungen, die – wie so oft – im Eifer einer aktuellen Debatte aufgestellt werden, gerechtfertigt sind oder nicht, das wäre dann vielleicht das Ergebnis einer solchen Debatte bzw. einer längerfristig angelegten Untersuchung. Aber prinzipiell sollte man Kritik nicht einfach abtun. Das betrifft alle Seiten, sowohl die Kritik an der Polizei, die meiner Meinung nach im Grundsatz immer erlaubt sein muss, das betrifft aber auch die Fragen, ob wir Probleme in bestimmten Stadtteilen oder Probleme mit Radikalisierung und Gewalt bei einzelnen Personen oder Gruppen haben.
Es wird auch viel über die Strategie der Polizei in dieser Silvesternacht diskutiert. Konnten Sie eine erkennen?
Bei der Bewertung muss man vorsichtig sein, weil wir nur Ausschnitte kennen, vor allem aus den sozialen Medien. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man sich kein abschließendes Urteil erlauben. Ich gehe aber davon aus, soweit kenne ich die Polizei, dass es natürlich bei solchen Großereignissen zumindest Rahmeneinsatzbefehle gibt, die genutzt werden. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger konkrete Konzepte, die bei wiederkehrenden Anlässen, wie zum Beispiel zu Silvester oder bei Fußballspielen, abgerufen werden und die je nach Erfordernis spezifiziert werden können. Die Vorstellung, dass es in einer Großstadt für den Jahreswechsel überhaupt kein polizeiliches Konzept gegeben hätte, halte ich für wenig wahrscheinlich. Eine andere Frage ist natürlich, wie man die jeweilige Strategie bzw. deren Umsetzung bewertet.
Es wird kritisiert, die Polizei sei offenbar von einer Deeskalationsstrategie abgerückt. Von einer "Eskalationsspirale" war auf linker Seite die Rede.
Auch für solche Bewertungen ist es von außenstehender Seite zu früh. Grundsätzlich ist es so, dass die Polizei in Deutschland der Prämisse nachgeht, deeskalativ zu handeln und auch rechtlich dazu verpflichtet ist, immer die mildesten Maßnahmen zu treffen. Allerdings gibt es da in der Praxis durchaus Spielräume, die von der Polizei sehr unterschiedlich genutzt werden. Ein noch grundsätzlicheres Problem ist aber, wie man Deeskalation überhaupt interpretiert. Denn, was bedeutet das überhaupt? Wenn ich mehrere Leute frage, bekomme ich dazu sehr unterschiedliche Meinungen. Für die einen ist es schon eine Provokation, wenn die Polizei überhaupt vor Ort ist, selbst in übersichtlicher Anzahl. Andere wiederum haben ein ganz anderes Empfinden, fühlen sich dadurch sicherer. Das ist individuell sehr verschieden. Wir sprechen also nicht immer über die gleichen Inhalte, wenn wir sehr abstrakt über solche Begrifflichkeiten reden.
Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Martin Thüne.Bild: imago images/chromorange/watson-montage
Der Vorwurf der Provokation von Seiten der Polizei kommt aus linken Kreisen. Inwieweit kann man Gewalt überhaupt provozieren? Ist das nicht eine Verdrehung von Ursache und Wirkung?
Ja und nein. Erstmal muss man sagen, rohe Gewalt gegen Personen ist nicht akzeptabel, Punkt. Aber es ist natürlich schon so, dass Ereignisse nicht vom Himmel fallen, dass sie immer in einen Kontext eingebunden sind. Dass es auch zu Wechselwirkungen kommen kann, an deren Ende dann eine Gewalttat steht. Trotzdem muss ab einem bestimmten Punkt derjenige, der sich entschließt, körperliche Gewalt auszuüben, auch die Verantwortung dafür übernehmen.
Selbst wenn die Polizei ein falsches Einsatzkonzept gefahren hätte, rechtfertigt das nicht gewalttätige Angriffe.
Auch die Kommunikationsstrategie der Polizei in Sachsen wird kritisiert. Der Vorwurf: Sie habe mit ihren Veröffentlichungen ein falsches Bild gezeichnet. Von einem brennenden Einkaufswagen, den Protestanten "mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei" geschoben hätten, war die Rede. Auch mit der Verletzung des Beamten nahm man es offenbar nicht so genau. Es hieß, er sei im Krankenhaus "notoperiert" worden. Recherchen von Medien haben das allerdings widerlegt.
Die Polizei hat natürlich einen gewissen Handlungsdruck, das muss man bei aller Kritik berücksichtigen. Das heißt, wenn Dinge passieren, dann möchten die Journalisten möglichst schnell eine Auskunft haben und darauf hat die Gesellschaft in weiten Teilen auch ein Anrecht. In diesen kurzen Zeiträumen ist es in der Regel nicht möglich, valide Informationen herauszugeben, da schleichen sich Fehler ein. Die andere Seite ist: Polizeipressestellen müssen natürlich trotzdem bestrebt sein, die Informationen seriös zu überprüfen, bevor sie sie verbreiten. Und gerade in solch aufgeheizten Situationen müssen Worte mit Bedacht gewählt werden. Manchmal macht eben ein Wort den Unterschied. Hier ist immer wieder feststellbar, dass die Polizei zum Teil vorschnell Dinge herausgibt, die sie später wieder revidieren muss. Das trägt nicht dazu bei, dass insbesondere polizeikritische Kreise ein gesteigertes Vertrauen in die Sicherheitsbehörden bekommen.
Haben Sie ein Beispiel?
Was auffällt ist, dass bei größeren Einsätzen, gerade wenn es um Verletzungen gegen Polizeibeamte geht, die Polizei sehr schnell und sehr früh die Verletztenzahl ihrer eignen Beamten aktiv verbreitet, die im Nachhinein schon mehrfach wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen sind. Hier muss die Polizei sauberer kommunizieren und auch differenzieren: Was sind Verletzungsfolgen, die aus wirklichen, direkten körperlichen Angriffen resultieren und was sind solche, die im Rahmen von typischen Einsatzhandlungen entstanden sind. Es macht schon einen Unterschied, ob ein Beamter unmittelbar gewalttätig angegriffen wird oder ob der Beamte sich bei einer Verfolgung den Knöchel verstaucht hat. Um das klarzustellen: Letzteres ist natürlich auch infolge einer Diensthandlung entstanden und als solches unschön, aber das kann man nicht kommentarlos unter dem Schirm "Gewalt gegen Polizeibeamte" zusammenfassen.
Auf die Frage eines Journalisten, ob der Polizeibericht in Connewitz nicht aufgebauscht worden sei, sagte ein Polizeisprecher in Leipzig, die Polizei würde nie Falschinformationen verbreiten. Fehlt es innerhalb der Polizei vielleicht auch an einer Art Fehlerkultur?
Ja, das ist nun kein Geheimnis. Das ist auch Gegenstand langjähriger wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Hier besteht deutlich Verbesserungsbedarf. Auch dieses Bild, die Polizei würde immer neutral berichten, ist empirisch gesehen nicht haltbar. Es gibt ganz konkrete Fälle, wo die Polizei - sicherlich nicht vorsätzlich, aber manchmal an der Grenze zur groben Fahrlässigkeit – Fehlinformationen verbreitet hat. Wenn in Connewitz von Not-Operation gesprochen wird, dann ist das nicht irgendein Begriff.
Und ich erwarte schon von einer Pressestelle, dass man dort zur Not auch mal einen Duden oder ein Lexikon in die Hand nimmt und sich überlegt, was bedeutet das jetzt konkret.
Erst recht in solch aufgeheizten Situationen. Auf der anderen Seite: Man kann von den eingetretenen Verletzungen nicht auf die konkrete Tat rückschließen, wie es in der aktuellen Debatte mitunter getan wird. Vielleicht gab es den Versuch einer schweren Gewalttat, der nur glimpflich ausgegangen ist. Das zu untersuchen ist nun Aufgabe der Ermittlungsbehörden.
Es kommt in der Debatte zu absurden Argumenten auf beiden Seiten. Was tun, um die aufgeheizte Stimmung wieder abzukühlen?
Wir stellen ja schon länger in diversen gesellschaftlichen und politischen Kontexten eine gewisse Lagerbildung fest. Hier konkret sagen also die einen, die Polizei ist schuld, die anderen sagen, es gibt ein Problem mit Extremisten. Die Fronten sind derart verhärtet, dass sachliche Gespräche kaum mehr möglich sind. Mit Blick auf Sachverhalte, in denen die Polizei eine Rolle spielt, spreche ich mich deshalb deutlich für die Schaffung eines unabhängigen Polizeibeauftragten aus. Gerade der Silverstereinsatz in Connewitz zeigt doch deutlich: Hier geht es um mehr als die Klärung einer Straftat in einem entsprechenden Gerichtsverfahren. Es geht um Einsatzkonzepte, um Akzeptanz, um Berichterstattung. Dies alles zu analysieren ist nicht Aufgabe eines Strafverfahrens. Auch die Politik wäre damit aufgrund der Komplexität und Zeiterfordernis überfordert.
Heißt?
Die Stelle des Polizeibeauftragten könnte man deshalb als Hilfsorgan an den Landtag angliedern. Dort könnte man genau solche Fragen, die jetzt in Connewitz aufkommen, in Ruhe von allen Seiten beleuchten, mit allen Beteiligten sprechen und dann einen Bericht oder Empfehlung an das Parlament zurückgeben. Eine solche Zwischeninstanz, die unabhängig ist, die vermittelt, die Vertrauen genießt bei der Polizei und den Bürgern, die fehlt in Bund und Ländern nach wie vor weitgehend. Hier hat Deutschland wirklich Nachholbedarf.
(ts)