Inzwischen sind deutlich mehr als eine Million Menschen weltweit mit dem Coronavirus infiziert worden. Eine gigantische Zahl. Wer genauer hinschaut, merkt allerdings, dass weite Teile des Globus noch relativ frei von Infizierten sind. Der afrikanische Kontinent, sonst oft Ausgangspunkt und Schauplatz von schweren Epidemien wie Ebola, ist bisher einigermaßen verschont geblieben. Bisher gibt es etwa 15.000 Fälle auf dem Kontinent.
Doch auf Afrika könnte noch eine Katastrophe zukommen, warnt Virologe Christian Drosten. Er erwartet steigende Zahlen von Infizierten im Sommer diesen Jahres auf dem afrikanischen Kontinent und malt Schreckensbilder:
Maximilian Gertler ist Arzt und Epidemiologe an der Berliner Charité. Er ist ein Kollege von Christian Drosten, der aktuell die Bundesregierung berät. Gefährliche Epidemien kennt Gertler aus nächster Nähe und auch schon vor dem Ausbruch von Covid-19. Mehrfach war Gertler als Epidemiologe für Ärzte ohne Grenzen zur Bekämpfung von Ebola im Einsatz. So auch 2014, als die größte bisher bekannte Ebola-Welle Westafrika heimsuchte.
Mit watson spricht Maximilian Gertler über seine Erfahrung im Kampf gegen Ebola in Afrika und erklärt, warum Covid-19 eine andere Dimension hat als die Epidemien, mit denen er bislang zu tun hatte.
watson: Ihr Kollege Christian Drosten sagte jüngst, man würde diesen Sommer aus Afrika Bilder zu sehen bekommen, die man sonst nur aus Katastrophenfilmen im Kino kennt. Halten Sie das für überzogen?
Maximilian Gertler: Ehrlich gesagt wage ich es mir kaum auszumalen. Nachdem ich gesehen habe, was Ebola in Gesellschaften anstellt, wie Menschen buchstäblich in der Schlange vor überfüllten Behandlungszentren sterben, wie sie in den Dörfern in kleinen Hütten abgesondert werden, um da vor sich hinzusiechen und das alles bei verhältnismäßig kleinen Zahlen an Infizierten… Ich fürchte auch, dass Covid-19 in manchen Gegenden Afrikas Schreckliches anrichten kann.
Aktuell ist die Zahl der Infizierten in den afrikanischen Ländern noch recht überschaubar…
Ja. Man weiß aber auch nicht, wie zuverlässig die Zahlen sind und wie hoch eventuell die Dunkelziffer. Im Moment profitieren die Gesellschaften in vielen Regionen Afrikas noch davon, dass die Menschen in der Regel weiter auseinander wohnen und sich die Krankheit über die langen Transportwege nicht so schnell weiterverbreiten kann wie hier. Aber wenn Covid-19 in den dichtbesiedelten Städten und Townships angekommen ist, weiß ich nicht, was uns da noch erwarten wird.
Es ist bei weitem nicht die erste Epidemie, die den afrikanischen Kontinent heimsucht. Sie waren 2014 während des Ebola-Ausbruchs in Westafrika vor Ort. Wie haben Sie das damals miterlebt?
Ich war in Guinea und habe als Epidemiologe dort Daten für die Einsatzplanung gesammelt und geschaut, welche Dörfer und Orte stärker betroffen sind und wo die Infizierten sich aufhalten. Das Ziel war dann, die Kontaktpersonen nachzuverfolgen und rechtzeitig zu isolieren.
So wie man es aktuell auch beim Coronavirus macht. Wie viele Ärzte hatten Sie dort vor Ort?
Das ist eines der schwächsten Gesundheitssysteme weltweit. Wir hatten mutige und entschlossene afrikanische Ärzte in der Patientenbehandlung. In meinem Team hatte ich medizinisch geschultes Personal, das in den Dörfern Erkrankte identifiziert, befragt und dann, wenn nötig, im Behandlungszentrum isoliert hat.
Da ging es gar nicht darum, medizinische Hilfe zu leisten?
Nein. Man hatte kaum die medizinischen Kräfte dafür. Das war eine Katastrophensituation mit Katastrophenmedizin. Einige Patienten konnten in spezielle Ebola-Zentren gebracht und dort medizinisch versorgt werden. Aber es gab zur damaligen Zeit auch noch keine spezielle Ebola-Therapie. Es ging lediglich darum, die Menschen zu versorgen. Beispielsweise mit intravenösen Kochsalzlösungen.
In dem Sinne ist das ja sehr vergleichbar mit der aktuellen Situation. Gegen Covid-19 gibt es auch noch kein Heilmittel.
Das ist richtig. Zwar ist Covid-19 bei weitem nicht so tödlich wie Ebola. Aber es ist viel ansteckender.
Wo ist hier die Herausforderung?
Zwar ist es so, dass die allermeisten Verläufe mild sind. Das Problem ist aber, dass durch die vielen Infizierten die Zahl derer, die einen schweren Verlauf haben, immer noch sehr hoch ist. Von Ebola waren ungefähr 30.000 Menschen betroffen. Weltweit gibt es jetzt schon mehr als eine Million bestätigte Covid-19-Infizierte. Das ist eine ganz andere Dimension.
Auch die Behandlung der Patienten verläuft anders. Die schwer Erkrankten müssen teilweise künstlich beatmet werden. In manchen afrikanischen Ländern gibt es weniger Intensivbetten als Minister. Wie wäre das in den afrikanischen Ländern umsetzbar?
Da muss man unterscheiden zwischen den unterschiedlichen Ländern in Afrika. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Botswana oder Südafrika im Süden oder beispielsweise dem Tschad in Zentralafrika. Aber in den allermeisten Ländern sind die Möglichkeiten, die man auf diesen sogenannten Intensivstationen hat, nicht vergleichbar mit dem, was wir hier haben. Hier haben wir Angst vor einem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems durch Covid-19. Dort gibt es nichts, was kollabieren könnte.
Ihre Aufgabe war es während der Ebola-Epidemie, die Patienten zu isolieren. Wie gut gelingt es, die Menschen dazu zu bringen, daheim zu bleiben?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt bei allen Ebola-Ausbrüchen, bei denen ich beteiligt war. Man muss das Vertrauen der Menschen gewinnen, damit sie sich an die Quarantäne halten. Nur so kann man die Ausbreitung verhindern. Das hat in Westafrika insgesamt sehr gut funktioniert.
Was kann man hieraus für die Eindämmung von Covid-19 lernen?
Es ist auch für Covid-19 zentral, die Patienten zu isolieren und die Menschen dazu zu bringen, daheim zu bleiben. Gerade weil es bisher kein Heilmittel gibt. Auch weil es in den meisten afrikanischen Ländern keine ausreichende Intensivmedizin gibt. Gleichzeitig ist es in den meisten afrikanischen Ländern viel, viel schwieriger als bei uns.
Weshalb?
Wenn wir hier einem Patienten sagen, er könne möglicherweise infiziert sein mit Covid-19 und soll zuhause bleiben und sich isolieren, dann ist das vielleicht nervig, aber ganz gut möglich. Der Patient geht nach Hause und erholt sich und kann seine Hände waschen und Alltagsgegenstände desinfizieren. Wie soll das in einem Township in Pretoria oder Nairobi funktionieren? Wie soll man das Menschen in riesigen Flüchtlingslagern wie Dadaab in Kenia oder in der Nähe von Somalia erklären? Die leben alle eng beieinander, sauberes Wasser, Seife und Desinfektionsmittel sind knapp. Die können nicht 14 Tage in Quarantäne gehen.
Wie ist es mit der wirtschaftlichen Situation? Könnte man in diesen Ländern einen Shutdown durchziehen, wie es hier der Fall ist?
Bei uns ist ein Großteil der Bevölkerung angestellt oder beamtet. Für uns ist mehrere Wochen Quarantäne auch lästig und teilweise kritisch, aber machbar. Wenn aber ein Großteil der Bevölkerung darauf angewiesen ist, mit Gelegenheitsjobs oder auf dem Markt kleine Beträge zu erwirtschaften, dann können die nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Eine Entscheidung zwischen verarmen oder krank werden…
Es ist eine Entscheidung zwischen Essen haben oder eben nicht. Das heißt, Covid-19-Prävention in Afrika wird uns nicht nur vor große medizinische Herausforderungen stellen, sondern auch vor soziale. Man muss den Menschen helfen, die Krankheit zu vermeiden, indem man ihnen finanziell hilft. Ganz davon zu schweigen, dass man dafür sorgen muss, dass die Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Ohne sauberes Wasser und Seife hat niemand die Möglichkeit, die Ausbrüche in den Stadtteilen zu vermeiden.
Die afrikanischen Länder sind demografisch anders als Europa aufgestellt. Dort leben relativ viele junge Menschen. Covid-19 scheint vor allem bei älteren Menschen schwere Verläufe zu nehmen. Ist das ein Vorteil?
Das ist richtig, die Demografie kann hier helfen. Gleichzeitig haben wir aber in den afrikanischen Ländern eine junge Population, die durch andere, teilweise chronische Infektionen geschwächt ist. HIV und Tuberkulose sind weiter verbreitet, Flüchtlingspopulationen sind oft geschwächt gegenüber Infektionskrankheiten.
Könnte Covid-19 auch zu weiteren Flüchtlingsbewegungen über das Mittelmeer führen?
Das ist schwer zu sagen. Aber natürlich hängt der Migrationsdruck mit Bedrohungslagen in Afrika zusammen. Covid-19 hat auf jeden Fall das Potenzial, eine weitere große Bedrohung für viele Bevölkerungsschichten in Afrika zu werden.