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Interview

Barrierefreiheit in Deutschland: Bundesbeauftragter hat klare Forderung

Jürgen Dusel setzt sich seit Jahren unter anderem für Inklusion und Barrierefreiheit ein.
Jürgen Dusel setzt sich seit Jahren unter anderem für Inklusion und Barrierefreiheit ein.Bild: Behindertenbeauftragter / Thomas Rafalzyk
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"Barrierefreiheit ist kein 'nice to have', sondern ein Menschenrecht"

Jürgen Dusel ist Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Ein Gespräch über die enge Verbindung von Demokratie und Inklusion, das Thema Werkstattlohn und Forderungen an die Bundesregierung.
24.08.2025, 15:0324.08.2025, 15:03
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Watson: Herr Dusel, das Motto ihres Arbeitsbereiches lautet "Demokratie braucht Inklusion". Was hat es damit auf sich?

Jürgen Dusel: Das Motto ist relevanter denn je. Wir erleben politische Kräfte, die Minderheiten an den Rand drängen. Wir müssen für unsere Demokratie eintreten – nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Inklusion und Demokratie sind zwei Seiten derselben Medaille. Ein Land ist erst dann wirklich demokratisch, wenn alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können. Das ist ein großer Wert, den wir verteidigen müssen, gerade in Zeiten, in denen Ressourcen knapper werden und vulnerable Gruppen oft als Erste zurückstecken müssen.

Sie sind seit 2018 Bundesbeauftragter für Menschen mit Behinderungen. Wie blicken Sie auf Ihre bisherige Amtszeit zurück?

Es ist für mich eine Ehre und Freude, diese Aufgabe ausüben zu dürfen. Ich muss ehrlich sagen, dass ich das nicht geplant hatte, ich wurde damals von Hubertus Heil gefragt. Seitdem sind sieben Jahre vergangen, und ich bin mittlerweile in meiner dritten Amtszeit, mit drei verschiedenen Kabinetten. Es ist ein anspruchsvolles Thema, das Kraft, Geduld und einen langen Atem erfordert. Gute Kommunikation und Vernetzung sind dabei essenziell – nicht nur im politischen Bereich, sondern auch mit den Verbänden von Menschen mit Behinderungen. Trotz der Herausforderungen gab es auch einige Erfolge, auf die ich stolz bin.

Können Sie ein paar konkrete Beispiele nennen?

Ein großer Erfolg war die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse für Menschen, die unter Betreuung stehen. Das betraf über 80.000 Menschen in Deutschland, die ihr demokratisches Grundrecht, zu wählen oder gewählt zu werden, nicht ausüben konnten. Ein weiterer Meilenstein ist, dass Menschen, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, nun das Recht haben, Assistent:innen mit ins Krankenhaus zu nehmen – das wird auch finanziert. Und: beschäftigungspflichtige Unternehmen, die keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen, werden stärker zur Kasse gebeten. Das ist notwendig, da etwa ein Viertel dieser Unternehmen in Deutschland keinen einzigen Menschen mit Behinderung einstellt. Auch ich habe null Verständnis für Null-Beschäftiger.

Und wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Ein großes Problem ist die Barrierefreiheit, vor allem im privaten Bereich. Während es im öffentlichen Bereich – etwa bei Behörden – Fortschritte gibt, sieht es bei Arztpraxen, Kinos, Restaurants oder Hotels oft schlecht aus. Nur etwa 25 Prozent der Arztpraxen in Deutschland sind barrierefrei. Auch im internationalen Vergleich schneidet Deutschland hier schlecht ab. Obwohl bereits im letzten Koalitionsvertrag angekündigt wurde, private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zu angemessenen Vorkehrungen zu verpflichten, ist bisher nichts passiert. Ich bin gespannt, wie nun diese Bundesregierung das gesetzlich umsetzt. Barrierefreiheit ist nicht nur eine soziale Frage, sondern ein Qualitätsmerkmal für ein modernes Land. Wer heute Barrieren baut, macht etwas falsch.

Sie sind von Geburt an stark sehbehindert. Wie beeinflusst das Ihre Wahrnehmung von Barrierefreiheit im Alltag?

Ich habe mittlerweile nur noch ein Sehvermögen von etwa 1 Prozent. Das bedeutet, ich brauche Unterstützung, ansonsten sind beispielsweise unmarkierte Treppen oder Hindernisse wie E-Scooter, die auf Gehwegen stehen, ein Problem. Das Gleiche gilt für schlecht lesbare Internetseiten. Barrierefreiheit wird oft nur auf Rollstuhlfahrer reduziert, die Heterogenität der Gruppe wird nicht gesehen. Für mich ist Auffindbarkeit ein großes Thema: Ich muss bei einem Arzt die richtige Klingel finden, aber die Beschriftung ist winzig. Oder ich reise mit der Bahn, und die Durchsage wird von einem einfahrenden Zug übertönt. Barrierefreiheit ist nicht trivial, aber sie ist kein "nice to have", sondern ein Menschenrecht.

"Wenn wir Wirtschaftsförderung so betreiben würden wie die Förderung von Menschen mit Behinderungen, könnten wir einpacken."

Auch im Bereich Arbeit bedarf es noch Verbesserungen. Die Linke fordert einen Mindestlohn für Behindertenwerkstätten.

Der Werkstattlohn muss definitiv erhöht werden. Aktuell ist er nicht wertschätzend. Menschen, die in Werkstätten arbeiten, erhalten oft nur 180 bis 200 Euro im Monat – das ist nicht vertretbar. Gleichzeitig müssen wir die Übergänge aus den Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessern. Derzeit liegt die Übergangsquote bei nur 0,3 Prozent – das heißt, drei von 1000 Menschen schaffen den Wechsel. Das ist nicht akzeptabel.

Was müsste sich ändern?

Ein wichtiger Schritt wäre, dass Nachteilsausgleiche, wie das Recht auf die Erwerbsminderungsrente, auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten blieben. Das würde die Schwelle, aus der Werkstatt herauszugehen, deutlich senken.

Sprechen wir über das Thema Pflegegeld: Geplant ist eine Tabellenerhöhung von 5 Prozent und bessere Sachleistungen. Reicht das, um Betroffene zu entlasten?

Das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz, das 2023 beschlossen wurde, sieht tatsächlich Erhöhungen Anfang 2024 und 2025 vor. Ob das ausreicht, wird sich zeigen. Pflege ist in Deutschland eine Dauerbaustelle, und es gibt viele Ansätze, wie etwa Pflegekräften mehr Kompetenzen zu geben. Aber wir müssen abwarten, wie sich die Maßnahmen auswirken. Klar ist, dass Pflege ein Thema bleibt, das uns alle begleitet – und viele pflegebedürftige Menschen haben auch eine Beeinträchtigung.

Dazu kommt die Bürokratie. Betroffene müssen ständig Anträge ausfüllen und sich durch einen Wust an Formularen kämpfen.

Wir sind in Deutschland wirklich Weltmeister darin, Dinge kompliziert zu machen. Menschen mit Behinderungen stehen einem regelrechten Wirrwarr an Zuständigkeiten gegenüber. Ob es die Bundesagentur für Arbeit, die Rentenversicherung oder das Integrationsamt ist – das versteht doch niemand mehr. Wir müssen das einfacher machen. Wenn wir Wirtschaftsförderung so betreiben würden wie die Förderung von Menschen mit Behinderungen, könnten wir einpacken. Das ist eine große Barriere für Inklusion, weil viele Menschen irgendwann die Motivation verlieren.

Gerade für Menschen, die plötzlich durch einen Unfall oder die Geburt eines behinderten Kindes in diese Situation kommen, ist das eine enorme Herausforderung.

Genau, und das erlebe ich häufig. Eltern von Kindern mit Behinderungen stoßen oft an ihre Grenzen. Besonders in der Pandemie war das deutlich zu sehen. Wir brauchen dringend bürgernahe Lösungen. Ich setze mich dafür ein, dass Leistungen aus einer Hand organisiert werden oder zumindest so geleistet werden. Es sollte eine Ansprechperson geben, die als Lotse durch diesen Dschungel führt. Wir haben jetzt die Chance, durch Reformen und Investitionen in die Infrastruktur Modernisierung und soziale Gerechtigkeit zu verbinden.

Welche Baustellen sind Ihrer Meinung nach jetzt besonders dringlich? Was muss in den nächsten 100 Tagen passieren?

Die gesetzliche Lösung zur Barrierefreiheit im privaten Bereich muss endlich vorangetrieben werden, die Novelle des Behindertengleichstellungsgesetzes ist für mich zentral. Ich hoffe, dass die Bundesregierung hier politischen Gestaltungswillen zeigt und die Interessen von Menschen mit Behinderungen nicht hinter wirtschaftliche Lobbyinteressen zurückstellt. Es geht darum, ob wir Menschen mit Behinderungen weiterhin warten lassen oder endlich handeln.

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