Israel kommt nicht zur Ruhe. Am Donnerstagabend verübten Attentäter einen Terroranschlag in einem beliebten Ausgeh-Viertel in Tel Aviv. Zwei Menschen wurden durch Schüsse getötet, mindestens acht weitere verletzt.
Der Anschlag reiht sich ein in eine Serie von Attentaten, die das Land in den vergangenen Wochen erschüttert haben.
Palästinensische Angreifer schlugen bereits zuvor in den israelischen Städten Beersheba, Hadera und Bnei Brak zu, elf Menschen kamen dabei ums Leben.
Zu zwei der Taten hat sich die Terrorgruppe "Islamischer Staat" bekannt.
Im Gespräch mit watson analysiert der Historiker und Nahost-Experte Michael Wolffsohn die Vorfälle und spricht über aktuelle politische Entwicklungen in der Region. Das Interview wurde vor dem Anschlag in Tel Aviv am Donnerstag geführt.
watson: Sind die aktuellen Anschläge Vorzeichen einer neuen, größeren Terrorwelle?
Michael Wolffsohn: Eindeutig. Es stellt sich allerdings die Frage, welchen politischen Nutzen sich die Attentäter versprechen. Das kann ich nur als selbstmörderische Strategie bezeichnen. Der "Islamische Staat" ist leider immer noch nicht tot und will beweisen, dass er Anhänger hat.
Für die Palästinenser ist dies katastrophal: Erstmals ist eine arabische Partei an der israelischen Regierung beteiligt. Diese hat gerade für die israelischen Araber, besonders die Beduinen im Negev viel erreicht.
Der Attentäter von Beer Sheva ist Beduine. Die Taktik des IS, wenn er denn hinter diesem Anschlag steckt, war strategisch also ein katastrophaler Fehler, die Koalition kann zerbrechen, die Araber nur verlieren.
Die Palästinensische Autonomiebehörde unter Fatah-Politiker Mahmud Abbas hat die Angriffe der vergangen Wochen verurteilt. Eine gute Entwicklung?
Das schon, aber die Behörde ist erstens korrupt und zweitens auch in der Westbank (den palästinensischen Gebieten im Westjordanland, Anmerkung der Redaktion) immer weniger anerkannt. Kürzlich gab es Kommunalwahlen, die ungefähr Fifty-Fifty ausgegangen sind: etwa fünfzig Prozent für die radikale Hamas, fünfzig Prozent für die Fatah.
Das ist eine historische Niederlage für die Fatah. Die Unzufriedenheit wächst, die Hamas wird stärker.
Aber viel interessanter ist eine andere Frage: Ob es Verbindungen gibt zwischen der Ukraine, Russlands Präsenz in Syrien – sowie der iranischen Präsenz in Syrien, Libanon und Irak, und der gegenwärtigen Situation.
Das klingt ziemlich komplex.
Das ist deshalb interessant, weil Israel im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland vermittelt…
…passiert da auch tatsächlich etwas, oder war das nur eine fixe Idee?
Nein, das ist ganz eindeutig. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyi hat verschiedene Staaten vorgeschlagen, die Sicherheitsgarantien für die Ukraine übernehmen sollen, und Israel ist einer davon.
Die Bundesrepublik, die auch vorgeschlagen wurde, hat zugesagt, aber nicht militärisch. Das ist nichts wert.
Und Russland?
Für Putin wäre es erfolgversprechender gewesen, in diesem schrecklichen Krieg eine Verbindung herzustellen zwischen einem Truppenabzug aus Syrien und einer Anerkennung der ukrainischen Halbinsel Krim, die von Russland besetzt und annektiert ist. Das ist bislang nicht geschehen.
Russland hat Israel bisher erlaubt, gegen iranische Kämpfer und Söldner sowie die Hisbollah (schiitisch-muslimische, vom Iran finanzierte Terrormiliz, Anmerkung der Redaktion) in Syrien und im Libanon Einsätze zu fliegen. Deshalb kann Israel nicht mit Russland brechen.
Der Iran ist dabei, territoriale Kontrolle vom Irak über Syrien zum Libanon zu festigen. Ohne Russlands OK kann Israel diese tödliche Gefahr nicht verhindern.
Zurück nach Israel. Wie verhalten sich die israelischen Araber, die sich meist als Palästinenser verstehen, zu all dem?
Sie sind gespalten in der Frage, ob sie im System des israelischen Staates arbeiten sollen – oder dagegen. Im System, in der Koalition, arbeitet die Ra'am-Partei der pragmatischen Muslimbrüder, halb dabei ist auch die Vereinigte Arabische Liste.
Ungefähr die andere Hälfte der israelisch-arabischen Bevölkerung arbeitet gegen das System. Die aktuellen Terroranschläge würde ich einordnen als Manifestation des innerarabischen Konflikts in Israel.
Deutschland liefert der Ukraine militärisches Gerät. Kann auch Israel nun auf stärkere Unterstützung hoffen?
Braucht Israel deutsche Schrottwaffen? Deutschland wird ein guter Kunde in Israel sein. Etwa, wenn es um bewaffnete Drohnen oder das Raketenabwehr-System Iron Dome geht. Das Verhältnis hat sich in dramatischer Weise umgekehrt.
Deutschland ist durch verschiedene Krisen, nicht zuletzt die Pandemie, wirtschaftlich zu geschwächt, um nun auch noch Israel etwas zu geben. Und die Israelis brauchen das auch gar nicht: Sie hatten im vergangenen Jahr ein Wirtschaftswachstum von acht Prozent.
Übrigens, eine Sache hat sich im deutschen Blick auf Israel zuletzt auch noch geändert: Mit der Rede von Kanzler Scholz zur Ukraine hat Deutschland erstmals – ohne direkt Bezug auf Nahost zu nehmen – militärische Reaktionen auf Bedrohungen als legitimes Mittel anerkannt.
Das ist implizit ein Wendepunkt in der Sicht auf Israel und wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Michael Wolffsohn hat von 1981 bis 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München gelehrt. Diesen Monat erscheint sein neues Buch „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ im Herder-Verlag.