Zerstörung nach den palästinensischen Angriffen in der israelischen Stadt Ashkelon. Bild: dpa / Ilia Yefimovich
Interview
08.10.2023, 14:3817.10.2023, 13:48
Die Antwort auf die Frage, ob sie in Deutschland ist, war überraschend.
„Ja, leider“, schrieb die Journalistin Sarah Cohen-Fantl in ihrer WhatsApp an unsere Redaktion.
Leider, denn: „Ich würde gerne berichten.“
Es war eine beruhigende Antwort, denn so war klar, es geht ihr gut. Doch Sarah ist deutsch-israelische Reporterin, die seit 2016 aus Israel berichtet, 2017 bis 2022 lebte sie in Jerusalem und Tel Aviv, 2022 ist sie zurückgezogen nach Berlin, wo sie aktuell ein Buch schreibt über Israel. Auch ihr Ehemann kommt aus Jerusalem. Das Paar hat einen Sohn, drei Jahre alt, und eine Tochter, zwei Jahre alt. Beide haben Freunde und Familie in Israel. Mit watson spricht Sarah über die Situation nach den Angriffen – und warum der Krieg auch für Jüdinnen und Juden in Deutschland alles verändert.
watson: Wie ist es für dich, gerade in Deutschland zu sein?
Sarah Cohen-Fantl: Mein erster Gedanke gestern war: Ich muss da sofort hin. Am besten in den nächsten Flieger, bevor der Flughafen zumacht. Aber der war dann eigentlich auch sofort zu. Ganz davon abgesehen hat mein Mann aber auch ein knallhartes Veto eingelegt. Das ist so eine Sache, die ändert sich, wenn man Mutter wird.
Journalistin Sarah Cohen-Fantl hat jahrelang in Israel gelebt.Bild: Privat / Alumah
Du bist also vorsichtiger, auch als Reporterin, seit du Mutter bist?
Ich hatte vorher nie Angst, aus Kriegsgebieten zu berichten. Aber als Mutter trage ich Verantwortung eben nicht mehr nur für mich, sondern auch für zwei kleine Kinder. Wenn mir was passiert, dann haben sie keine Mutter mehr. Dennoch zerreißt es mich, dass ich gerade nicht berichten kann. Ich dachte die ganze Zeit: Ich muss was tun, irgendwas! Aber immerhin über Social Media kann ich was machen und einen Podcast habe ich gestern aufgenommen.
Die Stimmung in Israel ist seit Jahren angespannt. Aber jetzt sind wir im Krieg.
Das ist etwas nie dagewesenes. Es übertrifft alles, was an schrecklichen Dingen jemals passiert ist in Israel. Und es ist erst vor einem Tag passiert. Wir wissen schon viel. Aber lange noch nicht alles!
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Ist auch die Art, wie die Palästinenser vorgehen, neu?
Es wurden Menschen nach Gaza entführt. Kleine Kinder, schwangere Frauen, junge Mädchen. Alles, was passiert ist, ist eine völlig neue Qualität verglichen mit dem, was vorher war. Das ist eine Handschrift, die stark an die von Iran und Russland im Ukraine-Krieg erinnert: Demütigungen, dass Frauen Gewalt erfahren, auch sexualisierte, dass es nicht nur darum geht, zu töten – sondern um psychischen Terror. Wir wurden noch nie so hart getroffen wie gestern.
Sarah (rechts vorne) mit Familie und Nachbarn bei Angriffen auf Tel Aviv in einem Bunker. Bild: Privat / Sarah Cohen-Fantl
Wie geht es euren Freund:innen vor Ort?
Es geht meinen Freuden vor Ort sehr schlecht gerade. Entführt, verletzt oder sogar getötet wurde bisher niemand von ihnen. Aber ich hatte sehr viele weinende Freunde am Telefon – und so kenne ich sie eigentlich nicht. Da sind Menschen, die auf der Suche sind nach Freunden, nach Kindern. Es gab ein Festival in der Wüste, auf dem viele junge Menschen waren, was völlig überraschend angegriffen wurde. Es gibt Eltern, die ihre Kinder noch am Telefon hatten und dann plötzlich nicht mehr und die seitdem nicht mehr von ihren Kindern gehört haben.
Kannst du mehr erzählen über das Festival in der Wüste?
Diese Party ist ein Tanzfestival, da wird Techno gehört, da haben alle gute Laune. Sicherlich wurden auch Drogen konsumiert. Aber als die Palästinenser da waren, haben die Festival-Besucher von jetzt auf gleich in den Kampf-Modus geschaltet. Die Israelis haben gekämpft, sie haben sich verteidigt.
Palästinensische Raketen, die Richtung Israel gefeuert wurden.Bild: www.imago-images.de / imago images
Was hast du selbst für Situationen erlebt?
2021 war ein sehr heftiger Krieg, der hat elf Tage gedauert. In dieser Zeit wurden 2500 Raketen auf Israel abgefeuert. Zum Vergleich: Jetzt waren es 5000 Raketen in 24 Stunden. Damals war ich schwanger, mein Sohn war ein Jahr alt. Ich musste ihn nachts aus dem Bett hochreißen, ich musste losrennen, die Treppen runter, durch den Garten, in das Nachbarhaus hinein. Denn wir hatten keinen eigenen Bunker im Haus und nur 60 Sekunden für den Weg in den Bunker. Einmal saß ich auf Toilette, als es passiert ist. Wir konnten nicht in Ruhe duschen. Das war komplett zermürbend.
Du lebst aktuell mit deinem israelischen Mann in Berlin. Wie geht er mit der Situation um?
Ich hätte eigentlich gesagt, ich bin abgehärtet. Aber gestern bin ich komplett zusammengebrochen. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, habe nur gezittert. Und mein Mann, der aus Jerusalem kommt, kennt das nicht anders. Der ist zwar auch tief getroffen, aber trotzdem ist er schon wieder kämpferisch.
Hat dein Mann noch Familie dort?
Ja, wir haben gestern Morgen ganz früh über Facetime gesprochen mit seiner Mutter. Während wir sprachen, ging auf einmal der Raketenalarm los. Sie hat geschrien und ist in den Bunker gerannt. Meine Kinder haben mich gefragt, warum ihre Oma weint. Wie erklärt man sowas dann? Ich habe gesagt, sie hat sich nur erschrocken, jetzt ist wieder alles gut: um sie ein bisschen fernzuhalten von all dem. Aber die Kinder, die jetzt gerade in Israel sind, sind wohl traumatisiert bis an ihr Lebensende. Mein Mann und ich sind unfassbar froh, dass unsere Kinder hier in Deutschland und damit in Sicherheit sind.
"Ich glaube, das ist etwas, was Israel auch schwächt, weil es ihnen die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit vor Augen führt."
Wie geht es weiter?
Es gibt zwei große Fragen, die jetzt geklärt werden müssen. Die erste ist: Wie konnte das passieren? Ganz Israel fragt sich das gerade. Gestern ist etwas passiert, das eigentlich unmöglich ist. Die Hamas ist übers Meer gekommen, mit Paraglidern, durch die Grenzzäune. Das waren 50 Männer in Trucks, das war nicht spontan. Es ist undenkbar, dass davon nichts bekannt war. Und ich glaube, das ist etwas, was Israel auch schwächt, weil es ihnen die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit vor Augen führt.
Und die zweite Frage?
Wie kriegen wir die Menschen, die gekidnappt wurden, da wieder raus? Israel ist wirklich groß darin, niemanden zurückzulassen und das Leben an erster Stelle zu stellen. Aber das ist jetzt fast unmöglich.
Gaza-Stadt nach den Gegen-Angriffen von Israel.Bild: www.imago-images.de / imago images
Israel holt jetzt zum Gegenschlag aus.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat gestern Zivilisten in Gaza gewarnt, sie sollten raus. Er hat gesagt, dass sie die Hamas komplett ausschalten wollen. Und dass sie keine Rücksicht nehmen. Das ist natürlich auch nicht gut. In Gaza sind auch Frauen und Kinder. Und die gehören nicht zur Hamas. Wo sollen die jetzt hin?
Wie gehen Jüdinnen und Juden in Deutschland und Berlin mit der Situation um?
Was gestern in Israel passiert ist, ist so weit weg von hier. Dennoch kenne ich keinen Juden hier in Deutschland, der sich gerade nicht Sorgen macht um seine Existenz. Ich wohne 500 Meter entfernt von den palästinensischen Demos, die gestern auf der Sonnenallee waren. Die Polizei hat diese Versammlung, auf der die palästinensische Flagge geschwenkt wurde und Menschen sich gefreut haben, wegen des Angriffs, lange nicht aufgelöst bekommen. Das kann doch nicht sein.
Heute ist eine Solidaritäts-Demo am Brandenburger Tor. Bist du da?
Ich wollte, eigentlich sogar mit Kindern. Jetzt gehe ich vielleicht alleine. Denn mein Mann hat sein Veto eingelegt. Der macht sich total Sorgen. Gestern gab es in Frankfurt auch eine Soli-Demo und da wurden Menschen attackiert. Ihnen wurden israelische Flaggen aus der Hand gerissen, sie wurden rumgeschubst.
Fühlst du dich noch sicher in Deutschland als Jüdin?
Meine Kinder gehen hier in einen jüdischen Kindergarten und sofort bekommen wir Nachrichten. Der Geheimdienst, israelische Security, die deutsche Polizei – alle sind alarmiert und alle Sicherheitsmaßnahmen sind aufgefahren. Aber meine Kinder gehen diese Woche sicher nicht in den Kindergarten. Synagogen werden in Deutschland jetzt natürlich auch wieder strenger bewacht. Das ist die jüdische Realität in Deutschland. So weit sind wir hier von dem Krieg in Israel offenbar nicht weg.