Die Präsidentschaftswahl in den USA ist umkämpft wie seit 20 Jahren nicht mehr. Das Rennen um das Weiße Haus ist knapp, tagelang herrscht Ungewissheit, wer Präsident wird. Beobachter hatten schon Monate vor der Wahl vor dem Szenario gewarnt, das jetzt eingetreten ist. Das hat mehrere Gründe:
Wie gefährlich ist die Lage? Kann es wirklich zu Gewaltausbrüchen in US-amerikanischen Städten kommen? Watson hat darüber mit Historikerin Annika Brockschmidt gesprochen, die sich intensiv mit der religiösen Rechten in den USA beschäftigt hat.
watson: Die US-Amerikaner haben gewählt, es dauert Tage, bis wir wissen, wer gewonnen hat – und der amtierende US-Präsident Donald Trump heizt die Stimmung an, indem er sich zum Sieger erklärt. Wie groß ist Ihre Angst, dass daraus Gewalt entsteht?
Annika Brockschmidt: Am Donnerstag sind Screenshots von E-Mails zirkuliert, die Trumps Wahlkampfteam an seine Fans herausgeschickt hat: darin ruft Trump seine "loyalsten" Anhänger dazu auf, "aufzustehen und zu kämpfen" und die "Wahl zu verteidigen". Das sollte man nicht als reine Bildsprache abtun. Trump hat gewaltbereite Milizen schon früher verteidigt. Man muss davon ausgehen, dass eine solche Rhetorik bei einem Teil seiner Anhängerschaft genau so ankommt, nämlich als Aufforderung zum (bewaffneten) Widerstand. Schon im Vorfeld der Wahl hatten Milizen – beispielsweise die Oath Keepers unter Stewart Rhodes – angekündigt, dass sie zu den Waffen greifen würden, sollte die Wahl nicht in ihrem Sinne, also für Trump, entschieden werden.
Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Schuld, die Donald Trump an dieser Gefahr trägt?
Trump hat während seiner gesamten Amtszeit immer wieder die Gewalt befürwortet, entschuldigt oder verharmlost, die von Milizen und von seinen bewaffneten Anhängern ausging. Er hat auch nach dem aufgedeckten Plan einer Miliz, in Michigan die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer zu kidnappen und hinzurichten, seine aufhetzende Rhetorik gegen sie nicht eingestellt. Er hat keinerlei Konsequenzen daraus gezogen. Sollte Biden gewinnen und sollte es in der Zeit nach der Wahl bis zur Amtseinführung im Januar zu Gewaltausbrüchen durch Trumps Unterstützer kommen, trägt der Präsident dafür eine Mitverantwortung.
Wie große Sorgen sollte sich jemand machen, der in einer US-Stadt, wo das Klima aufgeheizt ist, ein Geschäft hat?
Es kommt sehr darauf an, wo die Person lebt. In einigen Staaten wie Oregon, Michigan und Wisconsin wurden im Vorlauf der Wahl aus Sicherheitskreisen Warnungen vor erhöhter Milizen-Aktivität gemeldet. Ob und wie diese Gruppen tatsächlich zu den Waffen greifen, ist extrem schwer abzuschätzen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass Mitglieder etwa der Proud Boys und anderer Gruppen durchaus bereit sind, Gewalt an Demonstrierenden der Black-Lives-Matter-Bewegung zu verüben. In Maricopa County im Bundesstaat Arizona musste die Polizei jetzt in Kampfausrüstung die Auszählung der Stimmen schützen, weil bewaffnete Trump-Anhänger sich vor dem Gebäude versammelt hatten und die Auszählung stoppen wollten.
Von wem geht aus Ihrer Sicht die größte Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen aus?
Gruppen wie die Oath Keepers und die Three Percenters sind besonders bekannt für ihre gewalttätige Rhetorik und für gewalttätige Zusammenstöße. Aber auch die Proud Boys, die zumindest Überschneidungen mit klassischen paramilitärischen Gruppen haben, haben in den letzten Monat gezeigt, wie sehr sie den gewalttätigen Konflikt suchen. Doch auch Einzeltäter können auftreten: wie Kyle Rittenhouse, der im August bei den Protesten in der Stadt Kenosha auf drei Demonstrierende geschossen und zwei getötet hat. Rittenhouse hatte die Männer der Miliz namens Kenosha Guard aufgesucht, gehörte ihr aber wohl offiziell nicht an. Er kam aus dem Umfeld der Polizei, mit hohem Interesse an paramilitärischen Gruppen – auch das ist möglich. Natürlich kann es auch sein, dass nichts passiert, hoffen wir es. Denn das Gewaltpotenzial ist da.
Wie gefährlich sind aus Ihrer Sicht weiße, rechtsradikale Milizen, die Donald Trump verehren und seine Abwahl möglicherweise nicht anerkennen?
Das US-Ministerium für Innere Sicherheit schätzt die Gefahr durch White Supremacists – also Menschen, die an die Überlegenheit Weißer glauben – in den USA als höchste inländische Terrorgefahr ein. Viele der rechtsradikalen Milizen haben in ihrer Ideologie zumindest Elemente von White Supremacy. Die äußern sich meist in einer Form der Verschwörungserzählung von einem angeblichen "Weißen Genozid", einem "Bevölkerungsaustausch", der nach ihrer Überzeugung stattfindet und die Weißen unterdrücken soll. Bei den Proud Boys findet sich das, unter anderen Begriffen aber im Gedanken gleich: dort ist es die Gefährdung der "westlichen Kultur", unter anderem durch Immigranten. Viele Mitglieder dieser Milizen wollen öffentlich nicht White Supremacists zugeordnet werden, das ist schlecht fürs Image. Deswegen versuchen sie, People of Color in ihren Reihen als Argument dagegen anzuführen, dass sie rassistisches Gedankengut verbreiten. Das ist natürlich ein absurdes Argument.
Und welche Rolle spielt Donald Trump für diese Milizen?
Viele Milizen lehnen grundsätzlich alles Staatliche ab. Sie haben jedoch in Trump jemanden gefunden, der ihnen den Rücken stärkt. Deswegen unterstützen sie ihn, obwohl sie grundsätzlich das staatliche System ablehnen. Stewart Rhodes, der Anführer der Oath Keepers, hat in einem Interview mit dem Verschwörungsanhänger Alex Jones gesagt, bei einem Sieg Bidens würden seine Mitglieder zu den Waffen greifen. Die Oath Keepers rekrutieren sich vor allem aus dem Militär und der Polizei. Das sind also Menschen, die taktisch und militärisch ausgebildet sind. Das stellt natürlich eine Bedrohung dar. Ich würde sagen: mit allem rechnen, auf das Beste hoffen.
Wie groß sind diese Milizen? Wie viele Menschen sind darin organisiert?
Das ist sehr unterschiedlich und schwierig zu sagen, weil viele Milizen lose organisiert sind. Die Anti-Rassismus-Organisation Southern Poverty Law Center zählte 2019 181 Militia-Gruppen. Die Oath Keepers behaupten beispielsweise, bis zu 30.000 Mitglieder zu haben, Schätzungen zufolge sind es aber eher einige tausend. Die Organisation MilitiaWatch hat, nachdem Kyle Rittenhouse in Kenosha zwei Demonstranten erschossen hat, ein erhöhtes Interesse von Menschen festgestellt, sich Milizen anzuschließen. Das bedeutet: Es handelt sich um einen kleinen, aber gewaltbereiten Teil der Bevölkerung, teils mit militärischem oder polizeilichem Hintergrund.
Sie haben Ende Oktober in einem Artikel für den "Spiegel" beschrieben, wie nahe sich an manchen Orten seit Jahrzehnten rechtsradikale Milizen und die örtliche Polizei stehen. Wie gefährlich ist diese Nähe jetzt, in den Tagen nach der Wahl?
Potenziell ist diese Nähe natürlich grundsätzlich ein Problem. Das haben wir ja schon in Kenosha gesehen, wo die lokale Polizei sich bei der bewaffneten Gruppe, unter der auch der mutmaßliche Todesschütze Rittenhouse war, bedankt hat für ihre Hilfe. Weiße Männer mit Waffen – und Milizen setzen sich zum Großteil aus ihnen zusammen – werden von den Sicherheitskräften in den USA nicht als Bedrohung wahrgenommen, das hat diese und viele andere Interaktionen in den letzten Monaten gezeigt. Insgesamt ist die Nähe zwischen Polizei und Milizen historisch herleitbar – und zeigt wieder, dass es eine umfassende Polizeireform in den USA braucht, um das Problem auch nur ansatzweise in den Griff zu bekommen. Zwar sind viele Mitglieder von Milizen auch insgesamt gegen Gesetzeshüter eingestellt, da sie alles Staatliche ablehnen. Sie gehen aber davon aus, dass die Polizei potenziell eher auf ihrer Seite ist. Teils nicht zu Unrecht, wie die letzten Monate gezeigt haben.