Auch im 21. Jahrhundert sind Menschen versklavt – allerdings im Verborgenem. Das Schweigen muss ein Ende haben, meint Dietmar Roller von der "International Justice Mission Deutschland".Bild: IMAGO images / Donwilson Odhiambo
Interview
Sklaverei im Jahr 2023.
Es ist eine bittere Realität für über 50 Millionen unsichtbare Menschen, die weltweit ausgebeutet werden – vor allem Frauen und Mädchen. Etwa jede vierte Person in Sklaverei ist ein Kind.
Manche Kinder lernen nie etwas anderes kennen als ein Leben in Sklaverei. Bild: imago images / Friedrich Stark
Seit 2013 setzt sich die "International Justice Mission Deutschland" (IJM) für Betroffene ein. Als "Anwalt der Freiheit" befreien sie Menschen aus den Fängen moderner Sklaverei. Darunter auch der ehemalige Entwicklungshelfer Dietmar Roller, der Vorstandsvorsitzende der IJM.
Im Gespräch mit watson erklärt er, warum jede:r von uns heute indirekt Sklav:innen hält und wie wir das System durchbrechen können.
watson: Herr Roller, ihr Büro ist umgeben von Kindergärten. Was macht das mit Ihnen, das Kinderlachen zu hören, während Sie sich für versklavte Mädchen und Jungs einsetzen?
Dietmar Roller: Es motiviert mich. So befreit können viele Kinder nicht lachen. Sie wachsen in Schuldknechtschaft auf. Sprich, sie kennen nichts anderes, als ein Leben in Sklaverei und arbeiten etwa in Steinbrüchen in Asien oder Afrika – unter schlimmen Bedingungen.
Gibt es ein Schicksal, das sich in Ihrer Erinnerung festgesetzt hat?
Ich habe damals noch als Entwicklungshelfer das größte Goldabbaugebiet Ostafrikas besucht. Dort erlebte ich, wie ein Kind verschüttet wurde und wie es sich gerade noch da raus retten konnte. Ich blickte in die erschreckten Augen dieses etwa 10-Jährigen. Zwei Stunden nach dem Unfall schickte man ihn gleich wieder in die Miene, um aufzuräumen. Was für eine Traumatisierung und eine Retraumatisierung für das Kind. Das war ein Augenöffner für mich.
Ein Junge arbeitet in einem Gold-Abbaugebiet in Burkina Faso, Afrika.Bild: imago images / Joerg Boethling
Was löste das in Ihnen aus?
Hilflosigkeit. Denn mir waren die Hände gebunden. Gleichzeitig wusste ich, dass er da allein niemals rauskommen würde. Er gehörte jemanden.
Moderne Sklaverei.
Ja, sie kapitalisiert den Körper der Menschen. Der Ausbeuter sieht in der anderen Person nur ein Kapital und solange sich das rentiert, wird "es" ausgebeutet, bis es nicht mehr geht. Dann wird "es" weggeworfen.
Wie viel ist eine versklavte Person heute wert?
Ein Sklave kostet heute im Durchschnitt 80 Euro. Bei sexueller Ausbeutung können sie auch schon mal bis zu 3.000 Euro "wert" sein. Innerhalb von drei Monaten macht der Ausbeuter dann schnell Gewinn bis zu 40.000 Euro.
Wie viel ist ein Mensch wert? In der modernen Sklaverei wird er zur "Ware Mensch". Bild: imago images / Hans Lucas
Das heißt, die Gewinnspanne ist enorm bei geringer Investition.
Ja, es bietet die lukrativsten Ausbeutungsmechanismen. Sprich, einen maximalen Gewinn. Zum einen kann man Menschen mehrfach "handeln" und zum anderen ist das Risiko gering, erwischt zu werden. Neben der Herstellung von gefälschter Ware und Drogenhandel ist Menschenhandel das lukrativste Geschäft.
Vorstandsvorsitzende von der IJM Dietmar Roller will die Sklaverei ein für alle Mal abschaffen.bild: anne hamilton
Wie kann das im 21. Jahrhundert sein?
Das hat viele Gründe. Armen Menschen ist oftmals der Zugang zum Rechtssystem verwehrt. Dadurch entstehen rechtsfreie Räume, in denen Ausbeutung gefahrlos passieren kann. Wenn eine Frau in einem Slum etwa sexuelle Gewalt erfährt, wendet sie sich nicht an die Polizei. Denn sie weiß, die würde ihr sowieso nicht helfen.
Oder wenn einer armen Familie das Kind weggenommen wird. Allein die Fahrtkosten in die Stadt, für einen Anwalt und so weiter, das können sie sich nicht leisten. In diesen rechtsfreien Räumen entwickeln sich sehr lukrative Geschäftsmodelle – weltweit. In der Globalisierung sind wir alle Teil dieses Systems.
Selbst ich?
Durchschnittlich hält jeder Deutsche etwa 60 bis 70 Sklaven. Zum Beispiel hat jeder ein Handy. Da steckt das Mineral Coltan drin, das oftmals von Kindersklaven abgebaut wird. Das gilt auch für Kakao, Kleidung – für viele Produkte, die wir alltäglich nutzen. Aber wer geht heute einkaufen und fragt an der Kasse: Ist das Produkt "Sklavenfrei"?
Deshalb ist der erste wichtige Punkt, das Schweigen zu brechen. Der Druck von Konsumenten kann viel ausrichten.
Arbeiter in einer Coltan-Mine in Ruanda, Afrika. Oftmals arbeiten hier Kinder unter schlimmen Bedingungen.Bild: imago images / E. Baccega
Gibt es denn Sklaven in Deutschland?
Auch hier gibt es Fälle von Arbeitsausbeutung und Menschenhandel. Während in Regionen wie Südostasien oder Ostafrika armen Menschen der Zugang zum Rechtssystem fehlt, liegt das Problem bei uns woanders.
Und zwar?
In Deutschland ist oft die Armutsmigration der Hintergrund für Sklaverei. Etwa Frauen aus Osteuropa, die durch Menschenhandel in Zwangsprostitution verkauft werden. Am Ende sind die Mechanismen aber global ähnlich: Da ist ein Elend, das ausgenutzt wird.
Geflüchtete Frauen aus etwa Osteuropa können aus der Not heraus in der Zwangsprostitution landen. Bild: imago images / Rolf Kremming
Versagt hier die deutsche Justiz?
Das deutsche Justizsystem gibt einen guten Rahmen. Aber das Problem ist auch wieder der Zugang zum Rechtssystem.
Inwiefern?
Sehr oft trauen sich Betroffene einfach nicht, weil die Täter sie bedrohen. Das wirkt vor allem auf jene, die sich allein in einem fremden Land befinden. Dazu kommt eben die Armut. Sie lässt Menschen nach jedem Strohhalm greifen. Wir haben das etwa bei Frauen aus der Ukraine erlebt. Sie werden mit einem Job und Sicherheit gelockt. In dem Moment, wo sie sich in Not befinden, klingt alles verführerisch. Dann ist man diesen perfiden und geschulten Menschenhändlern leicht ausgesetzt.
Dann verkauft man auch schon mal sein eigenes Kind aus der Not heraus?
Manchmal ernähren sie dadurch die ganze Familie – also ganz perfide gesagt: Einer muss "dran glauben". Dann schuften sie etwa in Minen unter lebensgefährlichen Bedingungen oder werden sexuell ausgebeutet.
Gerade Kinder aus armen Verhältnissen sind gefährdet – wie dieser Junge aus einem Slumgebiet in den Philippinen.Bild: imago images / Kat Palasi
Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders an die Nieren gegangen ist?
Dazu fällt mir etwa die Ausbeutung von Kindern über Livestreams ein. Da sitzt jemand in Deutschland und überweist 100 Euro an irgendjemanden auf den Philippinen. Dafür kann dann der Kunde für eine Stunde live entscheiden, was mit dem Kind auf den Philippinen passiert. Da kommt es zu schlimmer sexueller Ausbeutung, die ich nicht im Detail beschreiben möchte. Das jüngste Kind, das wir befreit haben, war zwei Monate alt. Sowas vergisst man nicht.
Mit der Technologie wächst auch die Möglichkeiten der sexuellen Ausbeutung von Kindern.Bild: dpa / Sina Schuldt
Und die Täter kann man nicht überführen?
Solche Überweisungen passieren tausendfach jeden Tag. Das geht relativ fix. Da wird einfach erstmal nur Geld überwiesen. Der Livestream ist nur so lange nachzuverfolgen, solange er läuft. Danach gibt es keine Spuren mehr. Übrigens, die Täter in Deutschland sind bisher alle Männer.
Wir konnten mal ein ganzes Netzwerk von sexuell pädophilen Deutschen aufdecken. Sie beuteten lange Zeit Kinder auf den Philippinen aus. Dadurch, dass wir vor Ort waren und es durch unsere Arbeit Verhaftungen gab, kollabierte dieses Milieu.
Es braucht also nur einen Anstoß und solche Netzwerke brechen wie ein Kartenhaus ein?
In jedem Land gibt es einen Rechtsrahmen. Sklaverei ist ja weltweit verboten. Allerdings muss man die Ausbeuter und das System ans Licht bringen, die im Verborgenen agieren. Da können kleine Erfolge, ganze Lawinen ausbrechen. Nach zwei, drei Fällen bricht dann meist das ganze Netzwerk mithilfe der Justiz ein.
Wie fühlen sich solche Erfolge an?
Sehr gut. Sie geben Kraft, weiterzumachen. Ich sehe, dass wir etwas bewirken können. Auch im Falle der Schuldknechtschaft. Dort befreien wir oftmals Opfer, die schon in der dritten Generation in diesem System gefangen sind. Das heißt, der Großvater hat 20 Euro Schulden gehabt, ist mit seiner Familie an einen Ausbeuter geraten, wo er diese "abarbeiten" könnte und ist dann nie wieder rausgekommen.
Seine Kinder stecken fest. Seine Enkelkinder werden hineingeboren und kennen ein freies Leben gar nicht mehr – wie das Mädchen an der Wand. (Roller deutet auf ein Foto an der Wand)
Dieses Foto hängt im Büro der IJM in Berlin, die Geschichte hinter dem Lachen des Mädchens berührt Dietmar Roller.bild: anne hamilton
Was ist mit ihr?
Das Mädchen haben wir gemeinsam mit der Polizei rausgeholt und anschließend psychologisch betreut. Da sitzt dann dieses Kind vor mir, hält zum ersten Mal im Leben einen Stift in der Hand und malt ein Bild. Das war berührend. Sie lächelte stolz in die Kamera mit ihrem Kunstwerk.
Sie schenken Kindern wieder ein befreites Lachen.
Ich konnte am Ende nicht dem verängstigten Jungen aus der Goldmiene in Ostafrika helfen – dafür aber vielen anderen Kindern. Das macht Hoffnung. Wir sehen auf allen Ebenen, dass es möglich ist, moderne Sklaverei heute nicht nur einzudämmen, sondern zu beenden.