15 Jahre lang war Axel Reitz Teil der deutschen Neonazi-Szene, dann stieg er aus. Heute hilft er anderen Menschen, die Szene zu verlassen – und Jugendlichen, gar nicht einzusteigen. Gerade hat er ein Buch veröffentlicht, in dem er über seine Geschichte schreibt.
Bei watson spricht er über seine Erfahrungen als "Hitler von Köln" – und über seine Sicht auf die Welt.
Watson: Herr Reitz, Sie sind mit 13 Jahren in die rechtsextreme Szene eingetaucht und haben sich hochgearbeitet. In Ihrem Buch schreiben Sie, die Meinungsfreiheit habe Sie dorthin getrieben. Ist Radikalisierung so einfach?
Axel Reitz: Wenn die falschen Menschen zur "richtigen" Zeit auftauchen, kann man schnell eingewickelt werden. Ganz egal, ob Rechts- oder Linksextremismus, religiöser Fundamentalismus, eine Sekte: Das alles bietet einfache Antworten für Probleme.
Welches Problem hatten Sie?
Ich habe mich in meinem Elternhaus von meinem Vater nicht gehört und bevormundet gefühlt. Diese "Vorbelastung" war ein großer Trigger für mich als mir im Sozialkundeunterricht ohne Erklärung verboten wurde, rechte Parteien vorzustellen – während alle anderen Parteien akzeptiert wurden.
Ihr Buch hat den Titel "Ich war der Hitler von Köln" – wie sind Sie zu dem geworden?
Um ehrlich zu sein, habe ich alles dafür getan, mir diesen Spitznamen zu verdienen.
Inwiefern?
Ich bin rumgelaufen wie eine Nazi-Karikatur: Langer schwarzer Ledermantel, Seitenscheitel, Braunhemd. Reden im Stile von Joseph Goebbels. Der Name stammt allerdings aus einer Dokumentation des WDR. Ich selbst habe mich nie als Hitler bezeichnet.
Heute sind Rechtsextreme oft nicht mehr so einfach zu erkennen, wie Skinheads oder Braunhemdträger.
In den 90er- und 00er-Jahren gab es nur "Glatzen" oder "Scheitel". Alles andere war undenkbar. Das wollte ich ändern und wurde zu einem der maßgeblichen Mitbegründer der sogenannten "Autonomen Nationalisten", welche die Szene diverser gemacht haben.
Das heißt, Sie haben einen Anteil daran, dass man heute zum Teil die autonome Rechte kaum von der autonomen Linken unterscheiden kann.
Genau. Ich habe mich nie als "Rechten", sondern als "Revolutionär" gesehen. Hätte man mich gefragt, hätte ich gesagt: Ich bin nicht rechts, nicht links, ich bin deutsch. Ich wollte einen Sozialismus auf nationaler Grundlage. Und meine Politik sollte das ganze Volk repräsentieren.
Aber als Nazi haben Sie sich gesehen ...
Ich war Nationalsozialist – mit der Betonung auf Sozialismus.
Sie geben in Ihrem Buch Tipps, wie man mit Radikalisierten umgehen sollte – nicht ignorieren etwa. Mit Argumenten kommt man ihnen nicht bei. Wie sonst?
Wir müssen ihnen auf Augenhöhe begegnen, eine Beziehung schaffen. Nicht über politische Standpunkte, sondern über ihre privaten Probleme sprechen. Ich sage immer: Bekämpft den Extremismus, nicht den Extremisten.
Das klingt einfacher, als es ist.
Es gibt Momente, da ist es schwer, den Menschen zu sehen. Aber er ist da. Und auch wenn er verschüttet ist unter Wahnsinn und Fanatismus und Verschwörungsglauben, kann er wieder hervorgeholt werden. Das braucht Zeit.
Anders als früher geht Radikalisierung heute bequem per Social Media. Die Hand zu reichen, wird dadurch auch schwieriger, oder?
Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, wird es schwierig. Deshalb muss in Schulen viel stärker Medienkompetenz und Ethik vermittelt werden. Und das nicht als Oberlehrer.
Wie meinen Sie das?
Kein Jugendlicher lässt sich gerne sagen, dass das, was er sagt, denkt, lustig findet oder an Musik hört, verwerflich ist. Hysterische Reaktionen lösen die Probleme nicht, sondern verschlimmern sie oftmals nur. Wir müssen uns deshalb fragen, wie wir Rassismus an der Wurzel packen können.
Inwiefern?
Das Eingeständnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Einwanderung braucht, wird nicht klar kommuniziert. Das tut aber Not! Eingebettet in das stolze Bekenntnis zu unseren Errungenschaften und Freiheiten, die alle inkludieren, die Teil unserer Gesellschaft werden wollen. Für viele ist diese Einsicht noch ein Problem.
Und die wählen dann die AfD?
Die AfD-Wählerschaft träumt von einem Deutschland, das es nie gegeben hat und auch nie geben wird. Das macht sie anfällig für Nationalromantik. Gleichzeitig ist es heutzutage schwer zu sagen: Ich bin Patriot, dann steht man gleich in der Nazi-Ecke.
Wobei auch die Union solche Menschen ansprechen will.
Demokratischer Patriotismus ist ein gutes Gegenmittel zu toxischem Nationalismus. Friedrich Merz hat aber ein schwieriges Erbe angetreten. Angela Merkel wird aufgrund ihrer Politik in der Flüchtlingskrise 2015 von vielen kritisiert.
Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für die innere Sicherheit in Deutschland. Ist es nicht verharmlosend zu sagen, wir schauen die Menschen dahinter an?
Wenn wir den Menschen dahinter nicht mehr sehen wollen, können wir ihn nur verfolgen, einsperren oder in den Untergrund treiben. Das kann nicht die Lösung sein. In Deutschland wird schon heute ein sehr ungleicher Kampf gegen Extremismus geführt.
Ach ja?
Für die linke Seite gibt es viel mehr Verständnis und Bereitschaft, das vermeintlich Gute hinter dem Extremismus zu sehen, während das bei Rassisten, Fremdenfeinden und Reaktionären natürlich viel schwieriger ist.
Antifaschismus und Linksextremismus sind zwei verschiedene Dinge.
Richtig. Jeder Demokrat ist Antifaschist, aber nicht jeder Antifaschist auch Demokrat. Als Demokrat aber muss man gegen jede Form von Extremismus und Totalitarismus angehen.
Sie sind 2012 ausgestiegen. Wie kam es, dass Sie so sehr mit dieser Szene gehadert haben?
Ich bin 15 Jahre Teil dieser Szene gewesen. Ich habe daran geglaubt, mit ihr für etwas Gutes zu kämpfen und sämtliche Widersprüche weggeschoben. Aber das klappt natürlich nur eine Zeit lang.
Und dann?
Ich spürte, dass die Szene, in der ich mich bewegte, in einem krassen Widerspruch zu meinen Gefühlen und Vorstellungen stand. Das hat an mir gezehrt – irgendwann wurde ich depressiv. Ich habe mir Ausreden ausgedacht, warum ich nicht auf Veranstaltungen sprechen kann. Das war der erste Punkt, an dem ich merkte, dass irgendwas gewaltig schiefläuft.
Und dann?
Ich habe davon geträumt, dass unsere Szene die Speerspitze der Revolution ist. Wir machen den Weg frei und dann schließen sich die normalen Leute an, wie 1933. Irgendwann hat mich ein Lehrer gefragt, ob ich ihm helfen könnte, Anschluss zu finden. Ich habe ihn davon abgebracht – obwohl das ja das war, was ich immer wollte. Da hat es Klick gemacht. Aber auch das war noch nicht der Moment, in dem ich meine geheiligte Idee wirklich infrage stellte.
Nicht?
Ich habe mit dem Finger auf die Szene gezeigt, aber nicht meine Überzeugung hinterfragt. Ich bin kürzergetreten – und kam prompt wegen einer großangelegten Aktion wieder in den Knast. Als ich im Polizeiauto saß, war mir klar: Ich kann und will das nicht mehr.
Wie fühlt es sich an, wenn nach so einer langen Zeit das Weltbild zerbröckelt?
Scheiße. Ich stand vor dem großen Nichts. Mein ganzes Leben und mein Selbstbild waren weg – von jetzt auf gleich. Für mich war der Nazi Axel immer identisch mit dem Menschen Axel. Und als ich kein Nazi mehr war, stellte sich die Frage: Was für ein Mensch bist Du?
Und was war Ihre Antwort?
Ich habe einen Durst nach Leben entwickelt – und festgestellt, dass das eine tolle Sache ist! Plötzlich war mein Leben ganz normal: Ich habe Hobbys gefunden, bin Kunst- und Kulturvereinen beigetreten und habe neue Leute kennengelernt. Das alles weitete mein Weltbild und gab mir Mut zu tiefgreifenden Veränderungen.
So kam es zu Ihrer Selbstreflexion?
Ja. Ich suchte mir Hilfe bei einem Aussteigerprogramm und arbeitete meine Vergangenheit, meine Beweggründe und Lebenslügen intensiv auf. Ich habe erkannt, an welchen Bullshit ich geglaubt habe und Verantwortung dafür übernommen. Dazu zählt auch, heute nicht zu schweigen, sondern um Verzeihung zu bitten und über das, was ich erlebt und geglaubt habe, aufzuklären.