watson: Packt die SPD für die zweite Hälfte der Legislatur die Bandagen aus, Herr Kühnert?
Kevin Kühnert: Die Bandagen? Das klingt mir einerseits zu brutal und vor allem klingt es nicht schlau. Man muss klüger sein, wenn man seine Interessen durchsetzen will. Wir sind konfrontiert mit einem Parlament, in dem es auf unserer Seite des politischen Spektrums keine eigene Mehrheit gibt. Deshalb gibt es die Ampel. Und daher werden wir unsere Interessen nicht durchsetzen, wenn wir andere verprügeln oder sie anschreien – wir brauchen klügere Strategien.
Was sind kluge Strategien, um beispielsweise die Schuldenbremse erneut auszusetzen oder Superreiche stärker zu besteuern, wie es die SPD fordert?
Dafür sollte man zuerst weniger über technische Haushaltsfragen, als vielmehr über die Ziele unserer Politik sprechen. Mich muss keiner überzeugen, dass alle Voraussetzungen für eine Notlage, die eine Ausnahme von der Schuldenbremse erlaubt, gegeben sind. Aber die FDP wird durch bloßes Wiederholen dieser Feststellung nicht zu einer anderen Auffassung kommen. Lassen Sie uns also lieber darüber sprechen, wofür unsere Gesellschaft einen handlungsfähigen Staat braucht.
Und zwar?
Zum Beispiel, um öffentliche Infrastrukturen auf Vordermann zu bringen. Wir haben fast 200 Milliarden Investitionsstau in Deutschland, etwa im Bereich von Bildung und Digitalisierung. Zwei riesige Themen, die die FDP zumindest laut ihrem letzten Wahlkampf für enorm wichtig gehalten hat. Mir ist nicht klar, wie wir überhaupt nur unsere Substanz erhalten sollen, wenn der öffentlichen Hand massiv weniger Mittel zur Verfügung stehen. Das muss auch eine liberale Partei umtreiben und das muss sie den Wählerinnen und Wählern beantworten.
Mit dem Urteil aus Karlsruhe stehen jetzt noch weniger Mittel zur Verfügung. Haben Sie die Sorge, dass das einen neuen Ampelkrach auslösen könnte?
Es ist eine riesige Denksportaufgabe, vor der wir jetzt alle stehen, von der Ampel, über die Opposition bis hin zu den Bundesländern. Die letzten Tage blieb der ganz große Krach aus, das finde ich der Lage auch angemessen. Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, stellen die Weichen für die Haushaltspolitik der nächsten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte. Deshalb sollte jetzt niemand rein parteitaktisch agieren, auch die Opposition nicht.
Und stattdessen?
Schauen wir doch nüchtern auf die Zahlen. Wer ernsthaft versuchen würde, die nun fehlenden 60 Milliarden Euro durch Streichungen im Haushalt einzusparen, der wird bei verantwortungsvollem Vorgehen nur Kleckerbeträge finden. Jeder Vorschlag hingegen, der ernsthaft Streichungen in dieser Dimension vorsieht, lässt unsere Gesellschaft schlicht implodieren. Für die SPD ist klar: Wir sind weder für Sozialabbau zu haben, noch dafür, aus Deutschland durch unterlassene Investitionen ein Museum zu machen. Das kann für uns keine Antwort sein.
Was sonst?
Das besprechen wir im Kreise der Koalitionspartner unter Hochdruck und ich bitte um Verständnis dafür, dass wir Entscheidungen von solcher Tragweite jetzt im wirklich vertraulichen Rahmen entwickeln müssen.
In Ihrem Leitantrag für den SPD-Parteitag fordern Sie, die Schuldenbremse grundlegend zu reformieren. Wie genau stellen Sie sich das vor?
Der Schuldenbremse ist im Moment ziemlich egal, ob wir mit Hilfe von Krediten Schienen legen oder ob wir ein öffentliches Gebäude in Blattgold verpacken. Das ist ziemlich dumm, weil ja jeder sehen kann, worin der Unterschied besteht.
Das sollte man meinen.
Eine reformierte Schuldenregel muss die Notwendigkeit von Zukunftsinvestitionen anerkennen. Und Geld ausgeben aus Spaß an der Freude soll natürlich weiterhin untersagt sein. Wer gegen die Schuldenbremse in ihrer bestehenden Form ist, der hat ja nicht etwa einen Schulden-Fetisch. Aber für die SPD sind schlechte öffentliche Infrastrukturen eben auch Schulden, weil sie zukünftigen Generationen Chancen rauben.
Die Leitanträge zeigen, dass sich die SPD auf eine Zukunft nach der Ampel vorbereitet. Begeben Sie sich bereits in den Wahlkampf 2025?
Nein, wir gehen jetzt nicht in den Wahlkampf. Aber meine Aufgabe als Generalsekretär ist es, diesen vorzubereiten. Am besten nicht erst drei Tage vorher, sondern jetzt schon. Und so sehe ich auch die Aufgabe der Partei. Die Partei gibt es seit 160 Jahren und wird es auch in Zukunft geben. Diese Wahlperiode hingegen wird enden und unser Job ist es, dass wir dann nicht nackt dastehen, sondern dass wir Ideen für die nächsten Jahre haben. Dafür schaffen wir die Grundlage auf dem Parteitag, auf dem weder Grüne noch FDP eine Rolle spielen.
Beim Bundeskongress der Jusos wurde die SPD und ihre Rolle in der Ampel hart kritisiert. Medienberichte legen zudem nahe, dass manche Genoss:innen sich die Groko wünschen. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Ja, kann ich.
Ist die Groko eine Alternative?
Nein. Um die GroKo für eine Alternative zu halten, müsste man ein sehr schlechtes Gedächtnis haben. Ich bin Zeitzeuge, ich war live dabei und es war ganz fürchterlich. Viel schlimmer als manches, was wir jetzt haben. Aber beide Zeiten haben eines gemeinsam: Wir hatten und wir haben keine Mitte-Links-Mehrheiten im Deutschen Bundestag.
Das heißt?
Probleme gehen nicht weg, nur weil wir den Koalitionspartner wechseln. Die Einstellung von Friedrich Merz zur Schuldenbremse ist keine wesentlich andere als die von Christian Lindner. Und die asylpolitischen Vorstellungen von Bijan Djir-Sarai unterscheiden sich wenig von denen Carsten Linnemanns. Andere Mehrheiten bei der nächsten Wahl wären gut, aber das hilft uns jetzt nicht weiter. Wir müssen mit dem arbeiten, was da ist.
Braucht die SPD den Druck, den die Jusos angekündigt haben?
Wir brauchen konstruktiven Druck, auch von innen. Anders funktionieren Volksparteien nicht. Eine Partei, die jetzt 15 Jahre links neben uns gewesen ist, fällt gerade in sich zusammen. Klassische mitte-links Politik zu machen, das ist jetzt im Parlament die exklusive Aufgabe der SPD. Und da müssen wir auch eine gewisse Spannweite repräsentieren, von Olaf Scholz bis zu den Jusos. Das alles ist SPD-Spektrum.
Das heißt, Sie sehen in dem Zerfall der Linksfraktion einen klaren Auftrag für Ihre Partei?
Diesen Zerfall hätte es gar nicht gebraucht, weil die Linke schon vorher maßgeblich mit sich selber beschäftigt war. Die SPD ist die politische Kraft, die linke Politik tatsächlich umsetzen kann, weil sie die notwendige Stärke und die Bereitschaft zur Verantwortung hat. Mindestlohn, Energiepreisbremsen, Mindestvergütung für Auszubildende – das waren alles wir, niemand sonst.
Lars Klingbeil und Saskia Esken haben erklärt, dass sie 2025 erneut Olaf Scholz als Kanzlerkandidat aufstellen wollen, während die Zustimmungswerte zum Kanzler immer weiter fallen. Hat die SPD es verpasst, jemand neues aufzubauen?
Nein. Aber wir tun ganz grundsätzlich gut daran, fortwährend neues Führungspersonal aufzubauen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir Regierungsspitze und Parteispitze seit mittlerweile vier Jahren konsequent voneinander trennen.
Inwiefern?
Wir haben gemerkt, dass es uns inhaltlich wacher und beweglicher hält. Aber es gibt uns auch die Möglichkeit, uns personell breiter aufzustellen. In der Politik sind wir alle irgendwann raus. Aber es gibt dann immer noch die SPD, und die braucht immer wieder frische Leute mit frischen Ideen. Irgendwann wird es folglich auch andere Kanzlerkandidaten als Olaf Scholz geben. Aber sicherlich nicht 2025.
Apropos neues Führungspersonal: Die Jusos haben mit Philipp Türmer einen neuen Vorsitzenden, der sich in einer Kampfkandidatur durchsetzen konnte. Haben Sie als Ex-Juso-Chef Tipps für Türmer?
Nein, Tipps habe ich nicht. Das ist das Letzte, was aktive Jusos brauchen, dass die Alten ihnen erzählen, wie sie es machen sollen. Ich weiß, wie ich mich gefühlt habe, als ich das erste Mal in das Amt des Juso-Vorsitzenden gewählt wurde. Das ist ein Moment, in dem man eine enorme Verantwortung spürt. Und jeder und jede hier möchte diese Verantwortung gut ausfüllen, das weiß ich. Philipp wird dabei seinen eigenen Stil finden und der muss den Jusos schmecken, nicht dem SPD-Generalsekretär.