Annalena Baerbocks offizieller Lebenslauf war nicht korrekt. Die Parteichefin und Kanzlerkandidatin der Grünen hatte bei Angaben zu ihren Mitgliedschaften und ihrem Studium unpräzise Angaben gemacht. Unter anderem hatte sie eine Mitgliedschaft bei der Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen und dem German Marshall Fund angegeben, dabei war sie "nur" (Förder-) Mitglied und Beirätin.
Außerdem waren Daten zu ihrer Tätigkeit in einem Abgeordnetenbüro der Grünen nicht ganz richtig. Baerbock hatte angegeben, für eine bestimmte Zeitspanne Büroleiterin in Brüssel gewesen zu sein. Dabei war sie nur einen Teil der Zeit dort als Büroleiterin tätig gewesen – und ansonsten einfache Mitarbeiterin im Büro. Inzwischen hat sich Annalena Baerbock für die Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf entschuldigt und erklärt, "das war Mist." Trotzdem hält die Kritik an.
Aber wie entscheidend ist ein fehlerhafter Lebenslauf für ihre Eignung als Kanzlerin? Könnte Baerbock dieser Fauxpas sogar ihre Chancen auf die Kanzlerschaft kosten?
Watson hat jemanden gefragt, der das wissen kann. Werner Weidenfeld hat die Kanzler Helmut Kohl, Gerhard Schröder und natürlich auch Angela Merkel beraten. Damals wäre eine solche Debatte undenkbar gewesen, so Weidenfeld.
Watson: Wie entscheidend ist ein unpräziser Lebenslauf für die Eignung als Kanzlerin?
Werner Weidenfeld: Irrelevant. Das ist ja nun kein Betrugsversuch, der aufgedeckt wurde. Das sind ja keine charakterlichen Unzulänglichkeiten, die sich aus dem Verhalten von Annalena Baerbock ergeben. Es sind eben einige Jahreszahlen bei Positionen in Abgeordnetenbüros nicht ganz korrekt angegeben worden. Bei der Hektik im Politikbetrieb kann das durchaus mal passieren.
Es gibt aber Stimmen, die sagen, dass jemand, der beim Lebenslauf schummelt, eben charakterlich nicht für das Kanzleramt geeignet ist.
Woher wissen die denn, dass sie geschummelt hat?
Sie glauben ihr also, dass es ein Versehen war?
Wenn Sie sich einmal die Entwicklungen in solch hektischen Biografien anschauen, dann ist es durchaus nachvollziehbar, dass sie nicht mehr ganz genau weiß, zu welchem Datum auf den Tag genau sie jetzt eine Stelle angetreten ist. Was für eine Taktik soll denn dahinter stecken?
Selbst, wenn man annimmt, dass es keine Absicht war, lässt sich zumindest sagen, dass es unprofessionell war, dass ihr und ihrem Team diese Fehler unterlaufen sind. Sie haben einige Wahlkämpfe miterlebt. Muss sowas nicht vor einem Wahlkampf vom Team gecheckt werden?
Naja, das wird schon geprüft. Aber nicht in diesen Details bei so irrelevanten Flüchtigkeitsfehlern. Das hätte niemand ahnen können, dass so eine Nebensächlichkeit auf einmal so einen Wirbel verursacht. Wenn es zur Schlüsselqualifikation einer Kanzlerin gehören würde, pausenlos die eigenen Angaben auf Fehler zu überprüfen, würde ich sagen, "ja, sie ist ungeeignet." Aber zum Kanzleramt gehören dann doch andere Tätigkeiten. Ich möchte auch mal wissen, ob es nicht auch irgendwo noch ein Dokument gibt, bei dem Angela Merkel ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen ist.
Hätten Sie sich so eine Debatte bei Angela Merkels Wahlkämpfen vorstellen können?
Nein. Weil es auch medial eine andere Zeit war. Stellen Sie sich mal vor, man hätte damals bei Konrad Adenauer die gleichen technischen Mittel der Internetrecherche gehabt wie heute. Da hätte man nachforschen können, was er an welchem Tag während der NS-Zeit gemacht hat. Das hat keiner gemacht. Und so wurde er als braver ehemaliger Oberbürgermeister von Köln im Jahr 1949 Bundeskanzler. Wusste man da, ob er nicht doch irgendwann mal zu einem Nazi einen freundlichen Kontakt gepflegt hatte? Nein.
Das wurde später auch kritisiert, dass nach dem Zweiten Weltkrieg zu wenig geschaut wurde, was Politiker und Funktionäre während des Dritten Reichs gemacht hatten.
Adenauer hat auch durchaus ehemalige Nationalsozialisten in wichtige Schlüsselpositionen gebracht. Aber er meinte, wenn er nur Leute ohne NS-Vergangenheit einstellen soll, dann könne man auch gleich die gesamte Gesellschaft auswechseln. Und im übertragenen Sinne ist das doch bei Annalena Baerbock genauso. Wenn wir jetzt jedem, der in seinem Lebenslauf oder anderswo mal ungenaue Angaben gemacht hat, die Tauglichkeit absprechen, dann können Sie die ganze Republik austauschen.
Haben Sie den Eindruck, dass die Schärfe der Debatte um Annalena Baerbocks Lebenslauf auch damit zu tun hat, dass sie eine Frau ist?
Nein. Sonst hätten wir ähnliche Debatten auch bei Angela Merkel gehabt.
Und bei ihr wurde nicht genauer hingeschaut als bei Gerhard Schröder oder Helmut Kohl?
Das wäre damals sehr abwegig gewesen, so etwas wie den Lebenslauf zu prüfen. Es ist heute wirklich eine andere Zeit, in der man sich über Dinge erregt, die absolut irrelevant sind. Mich interessieren bei Annalena Baerbock ganz andere Dinge.
Welche sind das?
Ob sie die Führungsstärke besitzt, das Land zu regieren. Das hat mich genauso bei ihren Vorgängern interessiert.
Und hat sie die?
Sie hat es von ihrem Ausgangspunkt recht schnell zur Vorsitzenden der Partei geschafft und von dort aus zur ersten Kanzlerkandidatin der Grünen. Das halte ich für ein Indiz, dass sie durchaus in der Lage ist, zu führen.
Was ist noch wichtig für eine Kanzlerin?
Sie muss verschiedene Strömungen zusammenführen und integrieren können. Das hat sie meiner Meinung nach bisher auch ganz gut gemacht. Außerdem ist eine programmatische Perspektive wichtig. Dafür hat sie ja noch etwas Zeit bis zur Bundestagswahl. Und schlussendlich muss sie es schaffen, eine Machtarchitektur um sich herum aufzubauen.
Das heißt, sie ist in ihren Augen eine gute Kandidatin?
Ich weiß nicht, inwieweit sie dieses machtarchitektonische Kalkül besitzt oder entwickelt hat, das beispielsweise Helmut Kohl zu so einem wichtigen Kanzler gemacht hat. Aber was sie definitiv besitzt, ist eine inhaltliche Kompetenz in Sachen Umweltschutz, das würde man bei einer Kanzlerkandidatin der Grünen aber auch nicht anzweifeln. Außerdem hat sie sich bisher durch einen sehr guten und freundlichen Kommunikationsstil ausgezeichnet. Das ist auch einer der Gründe, warum man ihr den Vortritt vor Robert Habeck gelassen hat.