Die Welle der Wut über Rassismus und Polizeigewalt in den USA flacht nicht ab. Seit dem Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis gehen Menschen landesweit auf die Straße.
Dabei kommt es auch zu Ausschreitungen, Autos werden angezündet und Geschäfte verwüstet. US-Präsident Donald Trump bezeichnete die Demonstranten als Rowdys und Schläger und drohte am Montag mit dem Einsatz der Armee.
Wie bei früheren Protesten gegen Polizeigewalt in den USA hat längst wieder ein Kampf um die Deutungshoheit begonnen: Handelt es sich um größtenteils friedliche Proteste? Oder muss mit harter Hand gegen die Aufrührer vorgegangen werden?
Über diese Fragen haben wir mit dem Amerikanisten Simon Wendt von der Goethe-Universität in Frankfurt gesprochen. Seine Forschungsgebiete sind unter anderem Moderne Amerikanische Geschichte und Afroamerikanische Geschichte.
watson: Trump hat in seiner Rede am Montag sehr kurz über die friedlichen Proteste geredet und dann doch sehr ausführlich über angebliche "Schläger" und "professionelle Anarchisten". Wird diese Beschreibung dem Protest gerecht?
Simon Wendt: Tatsache ist, dass Trump hier in erster Linie an seine Wiederwahl denkt. Deswegen macht er nicht das, was Präsidenten sonst machen, also das Volk zusammenzubringen und zu vereinen. Sondern er gießt zusätzlich Öl ins Feuer. Er definiert die Proteste als Problem von Recht und Ordnung. Er sagt zwar, es gibt gewisse Ungerechtigkeiten, aber das ist nur eine Fußnote. Er stellt sich als Law-and-Order-Präsident dar, der die Lage im Griff hat und erhofft sich davon, seine Stammwähler zu befriedigen, die Angst vor Gewalt und auch vor Schwarzen haben.
Dennoch muss man sagen: Es kommt zu Gewalt, Gebäude werden geplündert, Autos angezündet. Geben diese Bilder die Proteste gerecht wieder?
Ein großes Problem dieser Proteste ist, dass sie relativ spontan entstehen, sich Unruhestifter einschmuggeln können und die eigentliche Message der Proteste verwässern. Extrem viele Afroamerikaner und ihre weißen Verbündeten sind daran interessiert, auf die Polizeigewalt und Rassismus aufmerksam zu machen. Diese Demonstranten können aber keine große Anzahl von Menschen kontrollieren.
Wissen wir, welche Gruppen für Gewalt sorgen?
Wir wissen es nicht genau. Es ist durchaus denkbar, dass sowohl Linksradikale als auch Rechtsextreme die Proteste ausnutzen, um ihre Agenda voranzubringen. Es ist auch möglich, dass es normale Bürger gibt, die hier eine Möglichkeit sehen, um Geschäfte zu plündern. Das sind Dinge, die wir noch nicht einschätzen können. Und genau darum ist Trumps Antwort so problematisch.
Warum?
Weil er sofort die Antifa-Fraktion betont. Aber dazu ist es einfach zu früh. Problematisch daran ist, dass es das eigentliche Problem umschifft. Der Name von George Floyd, dessen Tod die Proteste ausgelöst hat, ist nur noch eine Fußnote, die Probleme bei der Polizeiarbeit finden keine Erwähnung mehr. Das ist das Kalkül von Donald Trump. Vor dem Hintergrund einer Pandemie, die Hunderttausende das Leben kosten wird, überlegt er, wie er punkten kann. Er konzentriert sich auf die Stammwähler. Diese Strategie wird, wenn es so weitergeht, zu noch mehr Gewalt und Unmut in der Bevölkerung führen. Da sehe ich die große Gefahr.
Das rund achtminütige Video vom Tod von George Floyd ist eigentlich ein eindeutiger Beweis von Polizeigewalt. Und dennoch droht die Debatte über Rassismus und Polizeigewalt wieder von der Debatte über die Gewalt bei den Protesten verdrängt zu werden. Überrascht Sie das?
Es ist überhaupt nicht überraschend. Weder ist diese Art von Polizeigewalt überraschend, die es seit Jahrhunderten gibt, noch sind die Reaktionen auf die Proteste überraschend. Wenn man das vergleicht mit den 60er oder 90er Jahren, gibt es letztlich immer den Versuch von konservativen Kommentatoren, die Schuld den Afroamerikanern zuzuschieben und zu sagen, das sind alles Extremisten, die die USA eigentlich zerstören wollen. Denn dann muss man nicht mehr über die eigentlichen Probleme reden.
Ob die Proteste nach dem Tod von Michael Brown und Eric Garner 2014 oder von Freddie Gray 2015: Wirklich geändert hat sich danach nichts. Sind die Aussichten jetzt besser?
Sicherlich sind die Proteste jetzt flächendeckender und durchaus noch sichtbarer. Gleichzeitig glaube ich, dass sich wie in den letzten Jahren nicht viel ändern wird. Die Veränderungen müssten so grundlegend sein, dass niemand gewillt ist, das durchzuführen.
Welche Änderungen müssten das sein?
Etwa bei der Ausbildung von Polizisten. Die ist viel kürzer in den USA als in Deutschland. Hier wird auch nicht so viel Wert gelegt auf Antirassismus-Training. Die Auslegung der Möglichkeiten, tödliche Gewalt anzuwenden, wird in den USA ganz anders übermittelt als in europäischen Staaten. Das Training müsste geändert werden, aber das wird auf Ebene der Bundesstaaten geregelt. Daher könnte da zuerst auch nur ein Flickenteppich an unterschiedlichen Regeln entstehen.
Dann geht es auch darum, auf lokaler Ebener durchzusetzen, dass sich Polizisten an die Regeln halten. Das passiert aber nicht. Auch nicht in Minneapolis. Der Polizist, der jetzt im Fall von George Floyd angeklagt wurde, hatte Dutzende Beschwerden, aber nie gab es Strafen. Selbst wenn es eine Gesetzesvorlage gäbe, die etwa den Würgegriff verbieten würde, wird das keinen wirklichen Wandel bringen. So wie auch die Body-Cams keinen grundlegenden Wandel gebracht haben, weil Polizisten die einfach ausschalten. Gleichzeitig gibt es eine gewisse Bereitschaft aufseiten der Demokraten und auch der Republikaner, neue Anhörungen über Polizeigewalt durchzuführen. Aber in der Vergangenheit sind die Dinge meist im Sande verlaufen.
Könnte die Wahl im November einen Wandel bringen?
Wenn Joe Biden die Wahl gewinnt, könnte das einen Unterschied machen. Dann könnten Dinge auf den Weg gebracht werden. Aber man muss sich erinnern: Barack Obama wurde Präsident, beide Häuser des Kongresses waren in demokratischer Hand und dennoch konnte sich nichts Grundlegendes tun. Gleichzeitig macht es natürlich einen Unterschied, wenn ein Präsident betont, dass er mitfühlt mit Opfern von Polizeigewalt, auch, weil er selbst schwarz ist. Es ist besorgniserregend, dass wir jetzt einen Präsidenten haben, der sich auf die Seite von Rassisten stellt.
Meine Einschätzung ist: Es wird sich auch jetzt nichts Grundlegendes ändern. Wobei das nicht heißt, dass es nicht in bestimmten Bundesstaaten wie etwa in Minnesota, Veränderungen geben kann. Ob das dann Afroamerikanern langfristig hilft, steht auf einem anderen Blatt.
Welche Dinge müssten sich ändern in den USA, um die Situation der Afroamerikaner zu grundlegend zu verbessern?
Eine Sache ist die Polizeigewalt und die Polizeiausbildung. Grundsätzlich würde es aber auch darum gehen, das Erbe der Sklaverei aufzuarbeiten. Dass Afroamerikaner Chancen bekommen, die sie nach wie vor nicht haben. Da muss man sehen, dass Rassismus ein systemimmanentes Problem ist, sodass alle Bereiche des öffentlichen Lebens und der Politik betroffen sind.
Das wird Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern, bis sich die Strukturen ändern. Einige der Rassisten, die noch in den 60er Jahren für die Rassentrennung plädiert haben, leben immer noch. Insofern ist es die Frage, ob in mehreren Generationen ein Umdenken in den Köpfen passieren kann. Aber weil wir jeden Tag neue rassistische Ereignisse mitbekommen, wäre ich hier skeptisch, dass hier schnell Fortschritte erzielt werden.
Und auch Trump befeuert die Spaltung der Gesellschaft und nutzt Rassismus. Ebenso wie die Republikaner.
Die Republikaner führen die Strategie weiter, die sich Trump für seinen Wahlkampf ausgedacht hat. Diese Strategie konzentriert sich auf weiße Amerikaner, die nicht gut auf Schwarze zu sprechen sind, weil sie glauben, dass diesen Minderheiten etwas geschenkt wird. Die Sozialleistungen bekommen, während die weißen Amerikaner glauben, die einzigen zu sein, die hart arbeiten. Die weißen Amerikaner fühlen sich benachteiligt und glauben, dass sie in Trump einen Fürsprecher haben. Der nicht wie Obama so wahrgenommen wird, dass er sich um die Belange von Minderheiten kümmert.
Ich könnte mir vorstellen, dass diese Strategie vor dem Hintergrund der Pandemie und der Proteste nicht ausreichen wird im November. Aber in der Ära Trump kann viel passieren, oft innerhalb von Tagen. Dennoch glaube ich, dass die Kombination von Pandemie und Protesten gegen Polizeigewalt seine Wiederwahl schwieriger gemacht hat.
Gibt es jemanden in den USA, der diese Wut auf der Straße in konstruktive Bahnen lenken kann?
Was wir sehen, ist, dass auf lokaler Ebene bestimmte Politiker und Polizeichefs den richtigen Ton treffen und versuchen, mit den Demonstranten einen Weg zu finden, Dinge zu verbessern. Einen Weg zu finden, dass nicht alles außer Kontrolle gerät.
Welche Beispiele gibt es da?
Der Bürgermeister in Newark ist der Sohn eines bekannten Bürgerrechtsaktivisten. Er hat es geschafft, die Stadt friedlich zu halten. Er ist mit den Demonstranten marschiert. Die Stadt hat außerdem sichergestellt, dass es keine Anarchisten von außen schaffen, sich dort einzuschmuggeln. Man sieht auch an dem Polizeichef in Flint, Michigan, der seinen Helm abnahm und mitdemonstrierte, dass es möglich ist, in einen Dialog einzutreten.
Die Frage ist nur: Wie geht man nach diesem Dialog weiter vor? Wie kann man es schaffen, das Vertrauen zwischen Afroamerikanern und der Polizei wiederaufzubauen? Die meisten haben schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht und trauen auch den Politikern nicht, die nach mehr Polizei rufen. Da bleibt abzuwarten, was sich in den nächsten Jahrzehnten tut. Aber ich glaube, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren erstmal keine außerordentlichen Veränderungen sehen werden. Da muss man realistisch bleiben.