Stefan Liebich sieht Bewegung in Sachen Rot-Rot-Grün.Bild: imago/watson-montage
Interview
Es brodelt in der Linken – und zwar mächtig. Sahra Wagenknecht hatte angekündigt, aus gesundheitlichen Gründen nicht erneut für die Linken-Fraktionsspitze zu kandidieren. Auch aus der Führung der von ihr initiierten Sammlungsbewegung "Aufstehen" wolle sie sich zurückziehen. Mobbingvorwürfe in der Fraktion wurden daraufhin laut.
Mit Wagenknecht sei "die wichtigste Persönlichkeit" der Partei mit "Dauermobbing und Intrigen zur Aufgabe gezwungen" worden, sagte der Abgeordnete Alexander Ulrich. Auch Wagenknechts Stellvertreterin Sevim Dagdelen, die ebenfalls zum linken Parteiflügel zählt, will nicht erneut kandidieren. Der angekündigte Rückzug bringt aber auch Bewegung in ein längst vergessenes Bündnis: Rot-Rot-Grün. SPD und Grüne nannten Wagenknecht stets als Grund, dass Rot-Rot-Grün keine Chance habe.
watson hat mit Stefan Liebich vom "Reformflügel" in der Linksfraktion gesprochen. Er gibt einen Einblick in den Streit und die dahinterliegenden Gründe. Von den Mobbingvorwürfen hält er wenig und ein rot-rot-grünes Bündnis jetzt für möglich. Ein Interview.
watson: Herr Liebich, was ist da eigentlich los in Ihrer Fraktion? Da geht es ja hoch her gerade…
Stefan Liebich: War das schon die Frage oder eine Feststellung?
Die Frage.
Dann lautet die Antwort: Ja, das kann ich bestätigen.
Wie stehen Sie zu den Mobbingvorwürfen?
Die halte ich für falsch. Es ist so, dass Sahra Wagenknecht scharf austeilt, aber auch mit scharfer Kritik rechnen und auch leben muss – und damit ja auch leben kann. Es ist richtig, es waren harte Auseinandersetzungen und es wird in anderer personeller Konstellation auch wieder harte Auseinandersetzungen geben. Es gibt in der Linken immer solche Phasen. Das ist bei uns eben so.
Stefan Liebich ist...
46 und sitzt seit 2009 für die Partei "Die Linke" im Bundestag. Er gehört dem reformorientierten Flügel der Partei an, ist außenpolitischer Sprecher der Fraktion – sowie Obmann im Auswärtigen Ausschuss.
Gregor Gysi hat mal in einer Parteitagsrede 2012 von "Hass" in der Fraktion gesprochen und den Zustand als pathologisch beschrieben. Wie geht’s dem Patienten heute?
Damals war es ein wichtiger und notwendiger Weckruf. Es ging nicht mehr um die Sache, sondern um machtpolitische Lager und Personen. Es ist dann besser geworden und wir hatten auch eine Phase, in der es ganz gut funktioniert hat. In den letzten Monaten und Jahren hat es sich dann wieder verschärft. Da ging es um unterschiedliche Positionen in der Migrationspolitik und um die strategische Frage, wie wir uns nach dem Erstarken der AfD aufstellen. Da gab es unterschiedliche Auffassungen und die sind sehr heftig ausgetragen worden.
Ich vereinfache mal: Das Wagenknecht-Lager wollte auch AfD Wähler ansprechen, Sie wollen eher eine klare Abgrenzung…
Das wäre tatsächlich zu einfach. Bei uns wissen fast alle, dass wir auch darüber nachdenken müssen, warum einige, die früher links gewählt haben, zur AfD gegangen sind. Wir müssen schauen, wer ein Rassist ist – und der ist dann auch nicht mehr erreichbar. Und wer sind diejenigen, die sich einfach aus Zorn über die Politik, die gemacht wird, abwenden. Die müssen wir schon versuchen zurückzugewinnen. Und da gab es Differenzen.
Inwiefern?
Es gibt tatsächlich einige, die sagen, man muss auch deren Positionen bei der Migrationspolitik in die Überlegungen miteinbeziehen. Ich fand das nie sinnvoll, weil die Menschen, denen das so wichtig ist, im Zweifel immer das Original wählen würden. Ich finde aber schon, dass wir uns den Fragen und Sorgen derjenigen widmen sollten, die AfD wählen und keine Rassisten sind. Einige andere denken, dass das nichts nützt. Das war im Prinzip die Differenz, die existierte und vielleicht auch noch ein bisschen existiert.
Hat die Linke mit Blick auf das Erstarken der AfD gerade in Ostdeutschland nicht auch ein bisschen Mitschuld daran, dass der klassische PDS-, dann Linke-Wähler so einfach die Lager wechseln konnte? Weil schon damals vor allem Protest und das Dagegensein mobilisiert wurden und der Populismus jetzt vielleicht einfach eine andere Färbung hat?
Ich würde es nicht Schuld nennen. Es ist so, dass unsere Partei natürlich in den Jahren nach der Wiedervereinigung auch den Protest kanalisiert hat. Dann wurden wir in Verantwortung gewählt, in Mecklenburg-Vorpommern, in Berlin, in Brandenburg, in Thüringen. Und natürlich wird man dann nicht mehr als Protestpartei wahrgenommen, das ist ein normaler Weg. Deswegen haben sich auch einige, die ihre Stimme zum Zwecke des Protests abgeben von uns abgewandt. Das ist Teil der Entwicklung. Aber ich finde die Entwicklung deswegen ja nicht falsch. Dadurch konnten wir in Regierungen Dinge erreichen, für die wir gewählt wurden. Und darum geht es ja letztlich.
Ein Teil der Linkspartei spielt aber weiter Protest. Wenn man sich die Kritik an der EU, die Fundamentalkritik an der Nato, den USA, aber auch das Israelbild in Teilen der Linken anschaut. Gibt es jetzt nach dem Teilrückzug Wagenknechts die Chance, konstruktivere Bilder zu zeichnen?
Für diese Themen ist der angekündigte Rückzug von Sahra Wagenknecht keine Hilfe. Das wäre eine große Fehleinschätzung. Sahra Wagenknecht hat in all den Jahren ihre Auffassungen in einigen politischen Bereichen deutlich geändert. Sie war zum Beispiel früher diejenige, die Regierungsbeteiligung ganz grundsätzlich kritisiert hat. Inzwischen vertritt sie auch die Auffassung, dass man bestimmte Dinge eher in der Regierung erreichen kann. Und sie erreicht innerhalb der Partei und der Wählerschaft Leute, die wir vom Reformerflügel schwerer erreichen können. Aber wir haben ohnehin die Aufgabe, ob mit oder ohne Sahra Wagenknecht, die schmerzhafte Breite unserer Partei in bestimmten Korridoren zusammenzuführen. Nehmen Sie das angesprochene Beispiel Israel, aber auch Russland oder USA, da nähern wir uns von ganz verschiedenen Perspektiven. Und die Kunst ist es, innerhalb der Partei und Fraktion einen Korridor auszuhandeln, indem wir uns alle wiederfinden.
Und konkret? Wird es jetzt beispielsweise einen anderen Europawahlkampf der Linken geben?
Die Europapolitik hat sich bereits erfreulich geändert. Weil auf dem Parteitag alle Anträge, die in Richtung weniger Europa und mehr Nationalstaat gingen, abgelehnt wurden. Da haben wir uns klar in eine proeuropäische Richtung verbessert. Auch Sahra Wagenknecht hat nach dem Europaparteitag dessen Ergebnisse gelobt.
Ist jetzt der Weg frei für Rot-Rot-Grün?
Es gibt auch bei dem Thema Bewegung. Weil die Union klar zum Ausdruck bringt, dass sie konservativer werden und nach rechts rücken möchte. Und die SPD signalisiert, dass sie wieder nach links möchte. Ob sie das durchhält, weiß man bei der SPD natürlich nie. Aber das eröffnet natürlich wieder andere Debatten. Und die laufen auch schon.
Die Gespräche zwischen den drei Parteien kommen in Gang und werden intensiver. Auch wir haben ein Interesse daran, dass unsere politischen Ziele in praktische Regierungspolitik verwandelt werden.
Und personell? Wer folgt auf Wagenknecht?
Da ist alles offen. Die Gespräche beginnen natürlich und sind naturgemäß auch intensiv. Bei Personalentscheidungen geht es immer heiß her. Es geht ja auch nicht um eine Position, sondern dann um den gesamten Fraktions- und Parteivorstand. Da ist tatsächlich alles offen. Keiner ist gesetzt und wir müssen jetzt miteinander sprechen.
Aber es werden, wie bei Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, doch schon wieder beide Lager vertreten sein?
Das hoffe ich. Wir haben genaugenommen sogar drei Lager: Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch und Katja Kipping stehen für diese drei Lager. Und wir wären gut beraten, wenn alle drei Lager sich auf ein Modell verständigen, so dass sich alle in der Partei und Fraktion eingebunden fühlen. Die Variante, die einen sichern sich die Partei, die anderen die Fraktion, das ist nicht produktiv.
Könnten Sie sich die Fraktionsspitze auch vorstellen?
Ich bin in meinem Amt total zufrieden. Aber ich mache keine Tür zu. Ich bin da ganz entspannt.
Junge Menschen auf der ganzen Welt gehen heute aus Protest gegen die Klimapolitik auf die Straße. Täuscht der Eindruck, oder hat die Linke diese Bewegung verschlafen?
Das Dilemma ist: Es gibt immer Punkte, die bestimmten Parteien zugerechnet werden. Und wenn es um Umweltpolitik geht, wird jeder zuerst an die Grünen denken. Wir haben ein starkes ökologisches Standbein, aber das ist nicht das Erste, mit dem man uns identifiziert. Aber auch wir sind bei "Fridays for Future" dabei und hatten auch die Initiatoren gerade in der Fraktion zu Gast.
Tendenziell ist die Linke in der Krise, weltweit. Warum gibt es heute kaum linke Konzepte, die mehr beinhalten, als Altes zu bewahren? Wo sind die progressiven linken Ideen?
Zumindest was meine Partei betrifft, finde ich nicht, dass wir in der Krise sind. Klingt komisch, aber wir sind die stabilste Partei in Deutschland. Wir liegen seit Jahren zwischen 8 und 9 Prozent. Natürlich reicht uns das nicht. Wenn man was umsetzen will, braucht man ein bisschen mehr.
Und wer ganz grundsätzlich mehr will als linken Konservatismus, der sollte einen Blick über den Atlantik werfen. Dort machen junge linke Demokratinnen und Demokraten gerade richtig Wirbel.
Alexandria Ocasio-Cortez Cortes, die gerade in den Kongress gewählt wurde, zum Beispiel. Auch in Deutschland gibt es wieder mehr Menschen, die sich linken Parteien anschließen. Ich glaube, was die AfD ungewollter Weise auch geschafft hat, ist, dass es wieder mehr Mobilisierung gibt. Und wenn man sich die größte Demonstration der letzten Jahrzehnte anguckt, die "Unteilbar-Demo" in Berlin mit Hundertausenden Teilnehmern, dann sieht man, es ist Aufbruch da. Für Traurigkeit gibt es gar keinen Anlass. Dass sind Chancen, die wir nutzen müssen.