Politik
Interview

Linken-Chef Schirdewan zur Lage seiner Partei: "Tauchen aus der Versenkung auf"

05.11.2022, Sachsen, Löbau: Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Partei Die Linke, hält eine Rede auf auf dem Landesparteitag Linke Sachsen im Messe- und Veranstaltungspark Löbau. Foto: Paul Glaser/ ...
Linken-Chef Martin Schirdewan will für seine Partei erneut für die Europawahl kandidieren. Auch aktuell sitzt er als Abgeordneter im Europaparlament.Bild: dpa-Zentralbild/ dpa / Paul Glaser
Interview

Linken-Chef Martin Schirdewan zur Lage seiner Partei: "Werden Erneuerung meistern"

Martin Schirdewan ist der Co-Vorsitzende der Linken. Im Interview spricht er über fehlende Solidarität, die Neuerfindung der Linken und seine Vorstellungen für die Europäische Union.
17.11.2023, 08:2217.11.2023, 10:24
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watson: Verschwindet die Linke gerade in der Versenkung, Herr Schirdewan?

Martin Schirdewan: Wir tauchen gerade aus der Versenkung auf. Und wir machen uns auf den harten Weg, Sisyphos als einen glücklichen Menschen zu begreifen.

Wie meinen Sie das?

Der Weg aus dem kritischen Zustand ist schwer, er geht aber aufwärts. Wir werden gestärkt aus der Erneuerung hervorgehen.

"Wir sind unserer Verantwortung nicht gerecht geworden. Das hat auch mit den Konflikten der Vergangenheit zu tun."

Sie sprachen kürzlich davon, dass man aktuell zuschauen kann, wie die Ampelkoalition zerbröselt. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass man die Linke in Zukunft nicht länger beim eigenen Zerfall beobachten kann?

Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass die Linke strategische Fragen so unterschiedlich beantwortet, dass es kein Miteinander mehr gibt. Offensichtlich haben sich jetzt einige dafür entschieden, einen solchen Weg zu gehen.

Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Janine Wissler, Martin Schirdewan Entwurf des Parteivorstandes für das Wahlprogramm zur kommenden Europawahl der Partei DIE LINKE, Nachfrage Journalisten zu Sahra Wag ...
Gemeinsam mit Janine Wissler ist Schirdewan Vorsitzender der Linken.Bild: imago images / Frank Gaeth

Sie meinen die Gruppierung um Sahra Wagenknecht.

Das Kapitel ist für uns abgeschlossen. Jetzt denken wir darüber nach, wie wir neue Mitglieder gewinnen und die Strukturen stärken können, um politikfähiger zu werden. Seit dem Austritt haben wir schon viele hundert Neueintritte verzeichnet.

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Ist die Linke nicht politikfähig?

Wir sind unserer Verantwortung nicht gerecht geworden. Das hat auch mit den Konflikten der Vergangenheit zu tun. Dieser Zustand ist beendet. Jetzt liegt es in unseren Händen. Ich bin sicher, dass wir das schaffen.

Die Linke möchte in den nächsten Monaten und Jahren also wieder Antworten auf die Probleme unserer Zeit bieten.

Wir haben immer Antworten gegeben.

Aber?

Bei manchen Fragen ist es okay, unterschiedliche Positionen zu kommunizieren. Gesellschaft ist komplex. Diese Widersprüchlichkeiten kann eine Partei abbilden. Es muss aber ein konstruktives Gespräch sein, das in Partei und Gesellschaft stattfindet.

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Gemeinsam mit weiteren Abgeordneten hat Sahra Wagenknecht die Linke verlassen, um eine neue Partei "Bündnis Sahra Wagenknecht" zu gründen.Bild: imago images / photothek/ Florian Gärtner

Die Linksfraktion hat mittlerweile ihre Auflösung zum 6. Dezember beschlossen. Wie wollen Sie vermeiden, dass die Opposition zur Ampel in die Hände von Union und AfD gelegt wird?

Die Abgeordneten der Linken werden sich als Gruppe organisieren und weiter für linke Politik eintreten. Für die Rechten ist es attraktiv, auf Minderheiten draufzuhauen. Es ist aber absolut falsch. Wir müssen dem etwas entgegensetzen, besonders, weil sich die Ampel von Union und AfD nach rechts ziehen lässt.

"Die EU muss eine glaubwürdige Position erlangen, um in Krisen und Kriegssituationen tatsächlich vermitteln zu können."

Am Wochenende ist in Augsburg der Europaparteitag der Linken. Sie sprechen im Zusammenhang mit der EU-Wahl von einer Schicksalswahl. Warum?

Wir stehen vor einer neuen Blockkonfrontation zwischen China und den USA. Die anderen Parteien sagen deshalb, wir müssen aufrüsten. Wir sagen, die Europäische Union sollte eine unabhängige Friedensmacht werden. Und zwar so, dass sie glaubwürdig diplomatische Prozesse anstoßen kann. Wenn die Blockkonfrontation an Fahrt zunimmt, bedeutet das eine massive Aufrüstung, von der vor allem die Rüstungskonzerne profitieren. Im Umkehrschluss fehlt immer mehr Geld, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen und in die Zukunft zu investieren.

Wie wollen Sie so vermeiden, dass die EU zum Punchingball zwischen den Blöcken wird?

Die EU muss eine glaubwürdige Position erlangen, um in Krisen und Kriegssituationen tatsächlich vermitteln zu können. Das geht nur mit Diplomatie. Natürlich brauchen wir eine Verteidigungsfähigkeit – es darf aber nicht darum gehen, immer weiter aufzurüsten und die Angriffsfähigkeit auszubauen.

Sondern?

Die EU muss mehr für internationale Abrüstungsverträge einstehen und friedensbewahrende Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder die Vereinten Nationen reformieren. Deutschland und die EU müssen dem Vertrag zum Atomwaffenverbot beitreten.

"Ich will Fluchtursachen bekämpfen und ich will eine aufgeklärte europäische Gesellschaft."

Die Bundeswehr etwa ist eine Verteidigungsarmee.

Der SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht sehr offenherzig von Kriegstüchtigkeit. Es gibt ein 100-Milliarden-Sondervermögen für Aufrüstung, während die Bundesregierung in allen anderen Bereichen kürzen will. Etwa bei der sozialen Sicherheit oder der Demokratieförderung. Das ist ein Kurs, der dieses Land mit Krachen gegen die Wand steuert.

Sie kritisieren auch die Asylpolitik der EU. Mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) sollen Asylverfahren an den Grenzen zur Union beschleunigt ablaufen. Sie fordern, stattdessen Fluchtursachen zu bekämpfen.

Ich will Fluchtursachen bekämpfen und ich will eine aufgeklärte europäische Gesellschaft. Wir müssen an den Grundsätzen von Menschenrechten, Demokratie, aber auch von der Verteidigung des individuellen Asylrechts festhalten. Es ist unerträglich, wie schamlos diese zivilisatorischen Errungenschaften gerade im Mittelmeer versenkt werden. Wir brauchen solidarische Lösungen, die in der Kommune beginnen und auf europäischer Ebene enden – und andersherum.

Das heißt?

Es braucht eine europäische Antwort auf Menschen in Not, die zu uns kommen. Sie müssen solidarisch verteilt werden. Hotspots wie Italien und Griechenland dürfen nicht allein gelassen werden. Mit Zuständen, wie in Moria und den Nachfolgelagern dürfen wir uns nicht abfinden. Wir müssen aber auch, gerade mit Blick auf den Fachkräftemangel, den Zugang zum Arbeitsmarkt vereinfachen. Und es braucht massive Investitionen in die teilweise völlig unterfinanzierte öffentliche Infrastruktur. Wir haben keine Flüchtlings-, sondern eine Verteilungskrise.

Wie wollen Sie eine solche Politik der Solidarität mit Ländern wie Italien, Polen oder Ungarn umsetzen?

Wir hätten diese Länder längst an Bord holen oder notfalls Entscheidungen ohne sie treffen müssen. Stattdessen beugt man sich nun den Forderungen der extremen Rechten. Mit diesen Leuten, wie der italienischen Postfaschistin Giorgia Meloni, einen Migrationspakt aufzulegen, ist eine moralische Bankrotterklärung.

Italian Premier Giorgia Meloni smiles during a joint press conference with Slovenia's Prime Minister Robert Golob in Rome, Tuesday, Nov. 14, 2023. (Roberto Monaldo/LaPresse via AP)
Giorgia Meloni ist Ministerpräsidentin von Italien – und bekennender Fan der Politik Benito Mussolinis. Bild: LaPresse / Roberto Monaldo

Ohne Einigung würden diese Länder jegliche Bestrebungen wohl blockieren.

Es gibt immer wieder Koalitionen der Willigen und der Solidarität, auch in der europäischen Politik. Es gibt die Möglichkeit, Mehrheitsentscheidungen herbeizuführen. Dieser Weg wird aber nicht gegangen. Ich kenne keine Bundesregierung, die überhaupt mal auf diese Idee gekommen wäre.

Bereits in den 90er-Jahren wurde zur Befriedung der deutschen Gesellschaft in Sachen Migration von der damaligen schwarz-gelben Regierung mit Stimmen der SPD ein Asylkompromiss geschlossen.

Der Asylkompromiss der 90er-Jahre war eine der schwarzen Stunden der deutschen Nachwende-Politik. Die Regierung hat dem rassistischen Mob auf den Straßen nachgegeben – während es in einigen Städten zu Pogromen kam. Der Kompromiss hat die extreme Rechte nicht geschwächt, er hat ihnen das Gefühl von Bestätigung vermittelt. Die Morde des NSU, die Attentate von Halle und Hanau, all das ist danach geschehen. Je mehr der extremen Rechten nachgegeben wird, desto mehr politische Felder werden sie besetzen.

Ihre Analyse der Gesellschaft klingt trist. Was macht Ihnen Hoffnung?

Wir bekommen viel positives Feedback zu unserer klaren Haltung. Es gibt viele Menschen, die diesen Weg der Abschottung und Entsolidarisierung nicht mitgehen möchten. Viele warten darauf, dass wir als Linke unsere Stärke wiederfinden. Und das werden wir. Ich lade diese Menschen dazu ein, Teil davon zu werden, die Zukunft unserer Partei mitzugestalten.

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