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Interview

Verfassungsrechtler zum Infektionsschutzgesetz: "Ich verstehe die Kritik nicht

Demonstration gegen das reformierte Infektionsschutzgesetz von Corona-Skeptiker, aufgenommen in Berlin, 18.11.2020. Berlin Deutschland *** Demonstration against the reformed infection protection law b ...
In Berlin demonstrieren dutzende Menschen gegen die Änderungen am Infektionsschutzgesetz.Bild: imago
Interview

Verfassungsrechtler zum Infektionsschutzgesetz: "Es schützt die Grundrechte und gefährdet sie nicht"

19.11.2020, 16:4319.11.2020, 22:23
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Provokateure im Bundestag, hunderte Festnahmen, Wasserwerfer – darüber hinaus Rangeleien und verletzte Polizeibeamte. Die Corona-Demonstration am Mittwoch in Berlin eskalierte in vielerlei Hinsicht. Anlass für den Protest: Bundestag und Bundesrat stimmten über Änderungen im Infektionsschutzgesetz ab, den Paragrafen 28a.

Im Detail führt dieser eine Reihe von Schutzmaßnahmen auf, die von den Landesregierungen und den Behörden verordnet werden können: etwa eine Maskenpflicht, Abstandsgebote, Kontaktbeschränkungen im öffentlichen sowie privaten Raum. Das Schließen von Geschäften, Kultur- sowie Sportveranstaltungen kommt ebenfalls hinzu. Der Paragraf sieht allerdings vor, dass solche Verordnungen begründet und befristet sein müssen, damit nicht auf unabsehbare Zeit in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird.

Mittlerweile ist der neue Paragraf 28a beschlossen und die Protestierenden abgezogen. Trotzdem stellt sich die Frage, warum die Gesetzesänderung zu derart großem Widerstand führte. Ist sie wirklich so problematisch, wie die Demonstranten sagen? Watson hat Verfassungsrechtler Stephan Rixen gefragt. Er hat zusammen mit dem Verfassungsrechtler Jens Kersten das Buch "Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise" geschrieben.

"Ausgerechnet Kreise, die reichlich angebräunt sind, fantasieren sich in die Rolle von Freiheitskämpfern hinein."

watson: Ist ein neues Infektionsschutzgesetz aktuell sinnvoll?

Stephan Rixen: Die Änderungen sind absolut sinnvoll, denn sie ziehen ja die Lehren aus den Erfahrungen der vergangenen Monate seit Beginn der Pandemie. Die Rechtsgrundlagen für den Infektionsschutz werden präzisiert, der Verhältnismäßigkeitsgedanke wird sehr konkret gefasst. Auch das, was nicht geht, wird klarer definiert. Zum Beispiel wird ausdrücklich angeordnet, dass Schutzmaßnahmen nicht zur Isolation von Menschen in Altenheimen oder vergleichbaren Einrichtungen führen dürfen, ein Mindestmaß an sozialem Kontakt muss immer möglich sein. Das Gesetz ist bestimmt nicht perfekt, aber es geht in die richtige Richtung.

Vonseiten der Kritikerinnen und Kritiker heißt es, der Staat würde zu weit in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Was ist da dran?

Ich verstehe die Kritik nicht, denn das Gesetz schafft wichtige Vorkehrungen, damit Grundrechtsbeschränkungen nicht zu schnell und zu schneidig möglich sind. Das Gesetz sieht unter anderem eine Pflicht zur Begründung von Schutzmaßnahmen vor, sie müssen in ein nachvollziehbares Gesamtkonzept eingebettet sein. Das alles soll sicherstellen, dass sich die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen noch besser garantieren lässt. Eine Pandemie lässt sich nun mal nicht ohne Grundrechtseingriffe bekämpfen. Ein Eingriff verletzt Grundrechte aber nicht, wenn er verhältnismäßig ist. Genau das wollen die Gesetzesänderungen sicherstellen. Das Gesetz schützt die Grundrechte, es gefährdet sie nicht.

"Der Bundestag hat parlamentarische Verantwortung übernommen, indem er der Verwaltung per Gesetz Vorgaben macht und Grenzen setzt."

Auch von einem Ermächtigungsgesetz ist die Rede. Was genau bedeutet das? Warum der Vergleich mit dem Gesetz, das 1933 den Weg in die Diktatur ebnete?

Dazu fällt mir eigentlich nur das Wort "Verfassungsfeindlich" ein. Mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 hat der damalige Reichstag alle parlamentarische Verantwortung abgegeben. Dadurch wurde die Reichsregierung ermächtigt, Gesetze zu erlassen, die vorher nur vom Parlament erlassen werden konnten.

Dabei durfte die Regierung praktisch alle Bestimmungen der Weimarer Verfassung ignorieren, insbesondere auch die Grundrechte. Das war ein quasi-revolutionärer Akt, der die Nazi-Diktatur etabliert hat. Es ist mir völlig schleierhaft, wie man das in einen Zusammenhang mit den jüngsten Gesetzesänderungen bringen kann. Der Bundestag hat parlamentarische Verantwortung übernommen, indem er der Verwaltung per Gesetz Vorgaben macht und Grenzen setzt. Wer den Bundestag, der Grundrechte schützt, mit den Nazis gleichsetzt, die die Grundrechte verachtet haben, dem ist nicht mehr zu helfen.

Es ist nicht das erste Mal, dass gerade Gegner der Corona-Regeln Vergleiche zur NS-Zeit ziehen. Woher kommt das?

Wir müssen uns klarmachen: In bestimmten Kreisen, deren parlamentarischer Brückenkopf die AfD ist, praktiziert man mit großer Hingabe eine Täter-Opfer-Umkehr. Ausgerechnet Kreise, die reichlich angebräunt sind, fantasieren sich in die Rolle von Freiheitskämpfern hinein, die Opfer einer angeblichen Corona-Diktatur werden, wohl um von der eigenen Bereitschaft abzulenken, die Nazi-Diktatur zu relativieren, die ja in diesem Milieu ohnehin nur ein "Vogelschiss" ist.

Ich bin sehr für den zwangslosen Zwang des besseren Arguments, aber solche Leute haben sich aus der Welt der Argumente verabschiedet. Die haben null Verständnis verdient, die brauchen klare Ansagen. Und das heißt für mich auch, der Verfassungsschutz wird künftig sehr viel mehr zu tun haben.

"Grundrechtseingriffe befristen bedeutet, Freiheit zu schützen."

Wenn solche Eingriffe im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes zeitlich befristet werden sollen – wie angekündigt – wo liegt dann das Problem?

Eben. Das ist kein Problem, sondern eine Lösung, um die Grundrechte zu schützen. Das neue Gesetz schafft strikte Fristen mit entsprechenden Überprüfungspflichten. Gerade darin zeigt sich doch, wie der Verfassungsstaat noch genauer darauf achtet, übermäßige Freiheitsverluste zu vermeiden. Grundrechtseingriffe befristen bedeutet, Freiheit zu schützen. Ich weiß nicht, was daran so schwer zu verstehen ist.

Jetzt versucht der Staat auch, die Bevölkerung zu schützen. Wie weit darf er generell dabei gehen? Wo liegt die Grenze?

Der Staat versucht die Bevölkerung seit Beginn der Pandemie zu schützen. Das ist seine Aufgabe. Der Schutz der Gesundheit gehört laut Bundesverfassungsgericht zum Sozialstaatsprinzip und wird zugleich aus der grundrechtlichen Schutzpflicht für Leib und Leben hergeleitet. Das geänderte Infektionsschutzgesetz will gerade Gesundheitsschutz erreichen, ohne mehr als nötig auf die Grundrechte einzuwirken. Es ist jetzt ganz entscheidend, dass das neue Gesetz so umgesetzt wird, dass seine freiheitsschützenden Absichten Wirklichkeit werden.

Das späte Echo des MeToo-Skandals bei der Linken: Gericht verhängt Urteil

Anmerkung der Redaktion inklusive Richtigstellung: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir behauptet, der hier formulierte Urteilsspruch würde eine Frau betreffen, die sich gegenüber Medien als Betroffene zum MeToo-Skandal bei der Linken geäußert hatte. Das war inhaltlich falsch. Wir bedauern den Fehler und haben die entsprechenden Passagen korrigiert bzw. entfernt. Richtig ist: Verurteilt wurde eine Frau, die sich als Reaktion auf die damaligen Medienberichte auf Social Media zu dem Fall äußerte.

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