Die CDU ist der Wahlgewinner der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Am Ende hat die Partei von Ministerpräsident Reiner Haseloff 37 Prozent der Stimmen geholt – und damit deutlich mehr als die AfD, die als zweitstärkste Kraft knapp 21 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte.
Blickt man jedoch auf die jüngeren Wählergruppen, zeigt sich ein anderes Bild: Bei den unter 30-Jährigen belegt die CDU laut der Nachwahlbefragung der Forschungsgruppe Wahlen mit gerade einmal 17 Prozent den zweiten Platz. Die AfD ist hingegen in dieser Altersgruppe stärkste Kraft: 20 Prozent der Menschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren gaben der in Teilen rechtsextremen Partei ihre Stimme.
Warum die AfD unter jungen Wählerinnen und Wähler so stark war, welche Rolle eine ostdeutsche Sozialisierung bei der Wahlentscheidung gespielt hat und wie stark dabei die teils rechtsextremen Positionen der Partei ins Gewicht fallen, darüber hat watson mit Klaus Hurrelmann gesprochen. Er ist Jugendforscher und Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.
Watson: Rund ein Fünftel der Menschen bis 30 haben in Sachsen-Anhalt die AfD gewählt – auch 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen war die Partei stark bei jungen Wählern. Was findet ein so großer Teil der Jugend in Ostdeutschland an der AfD?
Klaus Hurrelmann: Wir wissen aus Jugend- und Wahlstudien, dass Menschen sich für bestimmte Parteien oder Kandidatinnen und Kandidaten vor allem wegen der Themen entscheiden. Das heißt: Wenn jemand die AfD wählt, dann, weil sie aus Sicht dieser Person Themen aufnimmt, die ihr oder ihm am Herzen liegen. Der AfD ist es aus Sicht vieler junger Menschen in den ostdeutschen Bundesländern gelungen, für das zu stehen, was wichtig ist.
Warum ist das so?
Wenn wir das mit dem Programm der Partei verbinden, fällt Folgendes auf: Alles, was mit einer schwierigen Arbeitsmarktsituation oder ein unsicheren Perspektive für die weitere persönliche Entfaltung in Ausbildung und Beruf zu tun hat, ist offenbar etwas, das für die AfD spricht.
Dass die AfD in Teilen rechtsextrem ist, ist mittlerweile weithin anerkannt. Die Landesgruppe in Sachsen-Anhalt wird seit Anfang des Jahres vom Verfassungsschutz beobachtet. Wählen junge Leute die Partei trotzdem – oder genau deshalb?
Es wird in Kauf genommen und von der Mehrheit der AfD-Wähler nicht kritisch gesehen, dass die Partei auch nationalistische, autoritäre und fremdenfeindliche Positionen vertritt. Die Partei spricht einen großen Teil derjenigen jungen Wählerschaft an, der solche ganz rechten Positionen gutheißt. Das liegt an der Ausgangssituation: Junge Leute in ostdeutschen Bundesländern schätzen ihre Chancen im Leben schlechter ein als andernorts. Das könnte erklären, dass dieser Teil der jungen Generation von der AfD erreicht werden konnte. Das reicht aber nicht aus, um den Erfolg bei jungen Menschen zu erklären.
Was ist der restliche Teil der Erklärung?
Es muss einen erheblichen Anteil an Jugendlichen geben, die trotz der rechtsextremen Komponente die AfD wählen. Der Partei ist es gelungen, eine Kümmerer-Mentalität aufzubauen, wie man es auch von der SPD oder den Linken hätte erwarten können. Aber die haben das nicht geschafft.
Es sind vor allem junge Männer, die die AfD wählen. Warum ist die Partei für junge Frauen nicht so attraktiv?
Das muss damit zusammenhängen, dass wir in ostdeutschen Bundesländern mehr junge Männer als Frauen haben, die sich beispielsweise mit ihrem Bildungsabschluss schwertun. Es lässt sich statistisch nachweisen, dass junge Frauen dort die besseren und höheren Schulabschlüsse erreichen. Der Anteil an jungen Männern, die im Bildungssystem schlecht zurechtkommen, zum Beispiel Klassen wiederholen müssen oder später Schwierigkeiten haben, berufliche Lehre aufzunehmen, ist höher als der von Frauen.
Was folgt daraus?
Das heißt, die jungen Männer fühlen sich nicht nur benachteiligt – sie sind es auch. Die AfD spricht gezielt das Empfinden eines sozialen Abgehängtseins an. Und ich glaube, dass auch die Corona-Pandemie unterschwellig eine Rolle bei der Wahl gespielt hat. Beispielsweise das Gefühl, dass junge Menschen immer hinten in der Priorisierung stehen – nicht nur bei der Impf-Kampagne. Da hatten manche jungen Menschen das Gefühl, die AfD ist eine Partei, die genau das erkannt hat, und als Fürsprecherin eintritt. Und noch etwas kommt dazu.
Was meinen Sie?
Männer sind auch intensiver in rechtsextremen Gruppen unterwegs als Frauen. Das kann daran liegen, dass sie eher Befürworter von radikalen Lösungen und deren Durchsetzung sind. Das liegt wiederum daran, dass wir in ostdeutschen Bundesländern mehr Männer mit einem niedrigeren Bildungsabschluss haben als Frauen.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, CDU-Politiker Marco Wanderwitz, hatte vor der Wahl den Erfolg der AfD im Osten damit erklärt, dass ein Teil der ostdeutschen Wähler „in einer Form diktatursozialisiert“ und noch nicht in der Demokratie angekommen sei. Die jungen AfD-Wähler aber haben die DDR nicht mehr erlebt. Liegt Wanderwitz falsch?
Es kann sein, dass Wanderwitz bei den älteren Bevölkerungsgruppen richtig liegt, aber bei den jungen kann es nicht stimmen. Die unter 30-Jährigen sind alle in einer Zeit groß geworden, in der es auf dem früheren Gebiet der DDR keine Diktatur mehr gab. Aber sie sind natürlich in der Region aufgewachsen und ihre Eltern haben das erlebt. Es ist schon so, dass sich einige Erfahrungen der Eltern auf die Kinder übertragen.
Wie drückt sich das aus?
Wir wissen, dass ungefähr die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen so wählt wie ihre Eltern. Die Einschätzungen des Elternhauses können eine Rolle spielen - aber ich glaube, eher als schwacher Faktor.
Bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im März war die AfD weit davon entfernt, stärkste Kraft unter jungen Wählerinnen und Wählern zu werden. Bleibt ihre Stärke also ein ostdeutsches Phänomen?
Ja, wenn ich mit meiner Analyse richtig liege, dann ist die AfD immer dort stark, wo jüngere Menschen im größeren Ausmaß den Eindruck haben, dass ihre Chancen schlechter sind: auf ein Vorankommen in Ausbildung und Beruf oder auf die Gründung einer Familie. Diese Wahrnehmung von Benachteiligung ist bei ostdeutschen Jugendlichen stärker als bei westdeutschen.
In Sachsen und Brandenburg haben junge Wähler sich stark zwischen AfD und Grünen aufgeteilt. In Sachsen-Anhalt hat es keine Partei bei ihnen über 20 Prozent geschafft. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Zugespitzt formuliert gibt es in der jungen Generation zwei Pole: Zwischen weltoffenen, umweltorientierten und gut gebildeten jungen Frauen und bildungsmäßig eher schwächeren, manchmal gescheiterten, eher national denkenden jungen Männern. Und sowohl die AfD als auch die Grünen stehen für eine klare Positionierung in eine der beiden Richtungen. Das ist bei dieser Wahl für die AfD aufgegangen, für die Grünen überraschenderweise nicht.
Warum nicht?
Ich vermute, die Grünen haben den Fehler gemacht, dass sie die Umweltthemen mit der Benzinpreisfrage in Verbindung gebracht haben, was den Eindruck erweckt hat, dass gerade schwächere Bevölkerungsgruppen auf dem Land, die auf ein Auto angewiesen sind, zur Kasse gebeten werden. Da war das Umweltthema schnell ein Ungleichheitsthema.
Was ist mit den anderen Parteien? Laut infratest dimap kommen in Sachsen-Anhalt bei den Wählerinnen und Wählern unter 25 alle Parteien außer der SPD auf zweistellige Ergebnisse. Warum ist das so?
Das kann an der thematischen Profilierung der Parteien liegen. Die FDP hat es geschafft, für Bildung und Digitales zu stehen. Der SPD gelingt es hingegen nicht, deutlich zu machen, für welches Thema sie eigentlich steht.
Und mit Blick auf die Zukunft: Ist der Erfolg der AfD bei jungen Menschen in Ostdeutschland langfristig eine Gefahr für die Demokratie?
Wenn ich mit meiner Analyse Recht habe, ist die Mehrheit der AfD-Wählerinnen und Wähler nicht rechtsextrem, sondern nimmt in einer fahrlässigen Weise die rechtsextreme Komponente der Partei in Kauf - weil sie auf die anderen thematischen Akzente der Partei setzt. Nun kommt es darauf an, wie sich die Partei entwickelt.
Inwiefern?
Ich glaube, junge Leute sind sehr direkt, pragmatisch und haben gleichzeitig ein hohes Bedürfnis nach Berechenbarkeit und Transparenz. Wenn die AfD ihr Ergebnis halten will, muss sie mehr sein als eine Partei, die die Stimmen Unzufriedener aufsammelt. Und es kommt natürlich darauf, wie sich die Konkurrenz verhält.
Was können die anderen Parteien aus Ihrer Sicht tun, um mehr junge Leute anzusprechen?
Themen ansprechen, die junge Leute berühren: die soziale Ungleichheit, moderne Bildungsangebote, die Digitalisierung. Aber ein anderer Aspekt ist mit Blick auf junge Wähler auch wichtig.
Nämlich?
Die AfD war die einzige Partei, die systematisch eine Erstwähler-Kampagne verfolgt hat. Außerdem hat sie die modernste digitale Kommunikationsstruktur. Sie erreicht ihre Wählerinnen und Wähler auf diesem Wege besonders gut und schnell – und das erweckt wiederum den Eindruck, dass sie sich für die Belange der Menschen interessiert und um sie kümmert. Wenn es der AfD nicht nur mit Inhalten, sondern auch mit diesem Kommunikationsstil gelungen ist, gerade die jungen Leute anzusprechen, dann ist das eigentlich ein Hinweis für die anderen Parteien.
Und inwieweit stehen die jungen Menschen selbst in der Verantwortung?
Was jetzt schnell kommen kann, ist eine Beschimpfung der jungen Leute. Die wären naiv, nicht gut gebildet und müssten nochmal lernen was Demokratie ist. Das ist alles Quatsch! Die meisten jungen Menschen haben eine aufgeklärte, nüchterne Haltung. Beschimpfungen und Mahnungen bringen da gar nichts.
Was wäre aus Ihrer Sicht besser?
Stattdessen sollte man demonstrieren, was die Rolle einer Partei ist: Sie ist eine Interessenvertretung. Und wenn man jungen Leuten deutlich macht 'Wir wollen wissen, wie es dir geht und deine Situation verbessern', dann sehen die Wahlergebnisse vielleicht ganz anders aus.