watson: Herr Klingbeil, laut einer neuen Trendjugendstudie ist ein Viertel der Befragten mit der eigenen psychischen Gesundheit unzufrieden. Was ist die sozialdemokratische Antwort auf diese alarmierende Zahl?
Lars Klingbeil: Der erste Schritt muss sein, dass wir das sehen. Die junge Generation hatte die letzten zweieinhalb Jahre wahnsinnig zu kämpfen.
Inwiefern?
Wenn ich mich an meine eigene Jugend erinnere, war das eine wahnsinnig prägende Zeit. In der Schule, im Freizeitbereich, Konzerte, Sportveranstaltungen, überall trifft man Leute. Dass das in den vergangenen Jahren durch die Pandemie wegfiel, macht natürlich etwas mit der jungen Generation. Es ist wichtig, dass wir das anerkennen.
Was muss der zweite Schritt sein?
Mental Health muss viel stärker in Schulen verankert werden. Meine Befürchtung ist, dass wir viele Auswirkungen der Pandemie und der aktuellen gesellschaftlichen Unruhen – auch durch den Krieg, der gerade den Glauben an ein friedliches Europa zerstört – erst später sehen. Deswegen ist eine bessere Ausstattung der Schulen mit Personal, das junge Menschen unterstützen kann, unabdingbar.
Am meisten belasten, laut der Studie, Inflation, Krieg und Klimawandel die jungen Menschen. Drei riesige Punkte. Wie muss die Ampel diese angehen?
Es bedingt sich alles gegenseitig: Wir leben in einer Zeit, in der die Pandemie noch nicht ganz vorbei ist. Wir haben Krieg, Inflation und Energiekrise und obendrüber hängt die Klimakrise. Es gab Zeiten, da haben wir im Bundestag wochenlang über zehn Euro Praxisgebühren diskutiert. Und jetzt sind wir mit den ganz großen Fragen konfrontiert.
Vermissen Sie diese Zeiten?
Weniger globale Krise wäre gut. Ich denke viel darüber nach, wie die Krisen zusammenhängen und massiv die nächsten Jahre bestimmen werden.
Und wie können die Krisen angegangen werden?
Der Kampf gegen die Inflation wird gerade dadurch bestimmt, dass wir die Energiepreise senken. Wir haben das Kindergeld erhöht, so stark wie seit Mitte der 90er Jahre nicht mehr, das Bafög steigt, der Mindestlohn ist erhöht, wir weiten das Wohngeld aus. Und jetzt kommt endlich auch die Einmalzahlung für Studierende. Es ist immens, was für Summen wir bewegen, damit das Leben bezahlbar bleibt.
Die Politik gegen den Krieg besteht darin, die Ukraine zu unterstützen. Und beim Klima haben wir den ambitioniertesten Koalitionsvertrag aller Zeiten, was den Weg in die Klimaneutralität angeht.
Viel passiert ist da bisher nicht.
Es hat noch nie so weitreichende Beschlüsse für den Ausbau der erneuerbaren Energien gegeben wie in diesen Tagen. Aber wir haben auch Rückschritte machen müssen wegen des Krieges, da kann ich nicht drum herumreden. Wir haben Kohlekraftwerke wieder ans Netz genommen und auch die drei Atomkraftwerke laufen länger.
Wichtig ist für mich: Wir müssen jetzt die Wucht der Krise nutzen und den Ausbau der erneuerbaren Energien weiter radikal vorantreiben. Wir leben in einer Zeit des totalen Wandels. Es ist wichtig, dass wir die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen.
Wenn Sie sehen, wie schnell das erste LNG-Terminal in der Nordsee errichtet wurde: War es ein Fehler, die Kohle zu reaktivieren, statt direkt volle Power in erneuerbare Energien zu setzen?
Nein, es ist leider eine Notwendigkeit, das zu tun. Wir müssen aber beim Ausbau der erneuerbaren Energien dieselbe Geschwindigkeit an den Tag legen, wie bei dem LNG-Terminal. Das ist nicht nur gut fürs Klima, sondern auch eine riesige Chance uns energiepolitisch, unabhängig aufzustellen und Arbeitsplätze der Zukunft zu schaffen.
Apropos Arbeitsplätze: Laut der Studie gehen viele junge Menschen davon aus, dass die Wohlstandjahre vorbei sind. Teilen Sie diese Befürchtung?
Es kommt darauf an, was in diesen Tagen passiert: Nutzen wir die Krise, um den Weg in Richtung nachhaltige, innovative, neue Geschäftsmodelle zu gehen? Wenn wir das hinbekommen, dann werden wir auch in zwanzig Jahren noch Wohlstand und gute Arbeitsplätze haben. Und zwar einen Wohlstand, der nicht auf billigem russischem Gas oder Ausbeutung und Kinderarbeit basiert. Es wäre ein nachhaltiger Wohlstand. Diese Entscheidung treffen wir jetzt gerade in diesen Tagen.
Im ersten Ampel-Jahr gab es viel Streit, der auch nach außen gedrungen ist. Gerade hat FDP-Vize Wolfgang Kubicki gedroht, die Koalition platzen zu lassen. Wie kann eine zerstrittene Regierung diese Entscheidungen angehen?
Wir haben in den Koalitionsverhandlungen nicht über einen Krieg gesprochen, nicht über Inflation, nicht über eine Energiekrise – alles das hat sich erst danach entwickelt. Jetzt müssen wir diese Dinge gemeinsam angehen, weil sie Realität geworden sind. Ich halte es für legitim, dass wir in dieser schwierigen Phase mit drei unterschiedlichen Parteien auch um den richtigen Weg ringen.
Aber?
Wir müssen immer schnell Lösungen präsentieren. Und dafür brauchen wir manchmal zu lange. Insgesamt bleibt die Ampel in der öffentlichen Wahrnehmung hinter dem zurück, was wir eigentlich geschafft haben.
Nämlich?
Wir bringen die Menschen gut durch die Krise und gehen gleichzeitig die notwendige Modernisierung dieses Landes an. Wir haben dafür gesorgt, dass die Gasspeicher gefüllt sind, damit wir durch diesen Winter kommen. Das war eine enorme Kraftanstrengung. Wir haben ein digitales Deutschlandticket beschlossen, für 49 Euro kann man künftig mit Bus und Bahn durch Deutschland fahren. Wir haben 219a abgeschafft, für mehr Selbstbestimmung von Frauen.
Da sind drei große Entlastungspakete, darunter 200 Milliarden Euro, um die Energiepreise zu drücken. Das Bürgergeld. Wir haben das Bafög und das Kindergeld erhöht. Das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Das sind riesige Summen und eine riesige Verantwortung. Aber bei vielen bleibt der Eindruck, wir streiten und diskutieren zu viel. Und das müssen wir ändern.
Allein lassen sich die Krisen nicht bewältigen. Die EU bröckelt an allen Ecken, blicken wir nach Italien oder nach Osteuropa. Wie sieht die Staatengemeinschaft der Zukunft aus?
Wir sehen Russland und China, auf der anderen Seite die USA, wo Donald Trump darum kämpft, zurückzukommen. Die Antwort muss ein starkes souveränes Europa sein: mit einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, einer europäischen Verteidigungspolitik und einer europäischen Haushaltspolitik.
Natürlich müssen wir auch die Konfrontation in der Europäischen Union suchen. Wir haben es gerade mit vielen Ländern zu tun, die nach rechts abgerutscht sind. Wir müssen auch innerhalb Europas unsere Werte verteidigen.
Wenn Sie jetzt das Jahrzehnt der Sozialdemokratie ausrufen, gilt das dann für Deutschland oder für Europa?
Wenn Lula in Brasilien gewählt wird, dann integriere ich ihn gerne auch, in das sozialdemokratische Jahrzehnt. Dabei geht es mir um die Frage, was sich politisch gerade verändert. Vor 20 Jahren gab es eine neoliberale Strömung, die den Staat aus allem raushaben wollte.
Und jetzt?
Heute gibt es ein Umdenken: Sogar der Bundesverband der Deutschen Industrie sagt, wir brauchen einen aktiven Staat, um Industriepolitik zu organisieren. Wir brauchen einen starken Staat, um Zuwanderung zu organisieren. Um Bildung und Qualifizierung zu organisieren. Für öffentliche Investitionen in Wasserstoff oder Mobilität oder die Energiewende. Es gibt eine Renaissance des Staates als Akteur, und das ist für mich sehr sozialdemokratisch.
Brauchen wir nicht eher eine starke Staatengemeinschaft statt vieler starker Nationalstaaten?
Wir brauchen starke staatliche Strukturen. Es geht mir nicht um Nationalstaaten gegen Europa, sondern um Staat gegen Privat. Wenn sich 27 europäische Länder verabreden, bis 2045 der erste klimaneutrale Kontinent sein zu wollen, dann hat das Macht. Und als Bundesvorsitzender der Sozialdemokratischen Partei kann ich sagen, dass ein starkes Europa immer das wichtigste deutsche Interesse sein muss.
Wobei es durch das Einstimmigkeitsprinzip auch in Europa immer wieder Abstriche gibt. Wir brauchen also eine stärkere Europäische Union?
Und in gewissen Bereichen ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips. Ich weiß, dass das keine Position ist, mit der ich 26 weitere Staaten sofort überzeugen kann – aber das ist der Charakter von Europa. Wir müssen eine starke Position haben und für sie kämpfen. Und irgendwann tut sich ein Zeitfenster auf, in dem wir das durchsetzen können.
Bei Ihnen klingt die Zukunft weniger finster, als bei anderen Zeitgenoss:innen. Was macht Ihnen Hoffnung?
Ohne Zuversicht und Optimismus ist es gerade schwierig, Politik zu machen. Ich glaube an die Stärke der Menschen in diesem Land.