Am vergangenen Sonntag wurde der Oppositionelle Alexei Nawalny nach der Landung am Moskauer Flughafen von russischen Sicherheitskräften verhaftet. Nawalny war im vergangenen Jahr mit dem Nervengiftstoff Nowitschok vergiftet worden, der bekannt dafür ist, vom russischen Geheimdienst gegen Oppositionelle verwendet zu werden. Anschließend war er in der Berliner Charité behandelt worden.
Nun ist er in Moskau zu 30 Tagen Haft verurteilt worden, weil er gegen seine Bewährungsauflagen aus einem früheren Gerichtsurteil verstoßen habe und nach seiner Behandlung zu lange in Deutschland geblieben sei.
Russland-Expertin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hält den Prozess für ebenso politisch motiviert, wie die gesamte Strafverfolgung des Oppositionspolitikers. Im Interview mit watson erklärt sie, warum Nawalny auch im Gefängnis nicht sicher ist und weshalb die russische Regierung nun so öffentlichkeitswirksam gegen ihn vorgeht.
watson: Haben Sie damit gerechnet, dass Alexei Nawalny nach seiner Ankunft in Russland verhaftet wird?
Sarah Pagung: Dass er verhaftet werden würde, hatte sich bereits angekündigt. In den vergangenen Wochen wurden bereits zwei Gerichtsverfahren auf den Weg gebracht. Die Frage war lediglich, ob sie ihn direkt am Flughafen festnehmen werden.
Dafür haben sich die russischen Behörden nun entschieden, während Nawalny von Journalisten, seiner Frau und seiner Anwältin begleitet wurde. Ist es schlau, sowas vor den Augen der Öffentlichkeit zu machen?
Es ist ein sehr widersprüchliches Verhalten der russischen Regierung. Auf der einen Seite bemüht sich die Regierung immer wieder, ihm so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zukommen zu lassen und nennt seinen Namen so wenig wie möglich im Fernsehen. Auf der anderen Seite bringt sie jetzt enorme Kräfte auf, um Nawalny direkt am Flughafen zu verhaften. Natürlich bringt das mehr Aufmerksamkeit für Nawalny als nötig.
Können Sie sich das Vorgehen erklären?
Womöglich will man an ihm ein Exempel statuieren. Bald sind Parlamentswahlen in Russland und man könnte versuchen, die Opposition damit einzuschüchtern.
Welchen Einfluss hat Nawalny auf die Opposition in Russland?
Er hat ein "Smart Voting"-System eingeführt, dass darauf beruht, dass die gesammelte Opposition in Wahlen einen gemeinsamen Gegenkandidaten gegen das Regime unterstützt. Dadurch haben Oppositionelle die Chance, Wahlen zu gewinnen. Nawalny steht für dieses System. Die russische Regierung konnte ihn daher vor den Parlamentswahlen nicht einfach so schalten und walten lassen.
Wie wirkt sich die Verhaftung Nawalnys nun auf die Opposition aus?
Das kann sich unterschiedlich auswirken. Es kann dazu führen, dass diese gestärkt daraus hervorgeht, weil die Empörung über die Verhaftung die Unterstützer mobilisiert. Es kann aber auch dazu führen, dass die Opposition demotiviert wird, weil sie eben auch merkt, dass ein Großteil der Russen Zweifel daran hat, dass Nawalny durch die russische Regierung vergiftet wurde.
Das heißt, ein Großteil der Russen glaubt der Regierung?
Nicht unbedingt. Die meisten Russen vertrauen einfach niemandem. Sie gehen davon aus, dass ihre Regierung sie belügt, aber auch die EU und Nawalny. In Russland wird oft irgendeine Form von Hinterzimmer-Geschichte vermutet.
Nawalny wurde begleitet von seiner Anwältin, auf die er bei der Verhaftung auch explizit hingewiesen hatte. Trotzdem wurde sie nicht zu ihrem Mandanten gelassen. Ist das legal in Russland?
Nein. Es ist in Russland an sich genauso wenig legal wie in Deutschland, dem Verhafteten den Anwaltsbeistand zu verwehren. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass das ein Land ist, in dem der Rechtsstaat nicht funktioniert. Gerade bei politischen Prozessen ist es daher nicht ungewöhnlich, dass sich die russischen Strafverfolgungsbehörden nicht an geltendes Recht halten.
Die offizielle Begründung für die Verhaftung war, dass Nawalny sich nach seiner Behandlung in der Charité zu lange in Deutschland aufgehalten hat und damit gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat. Wie ist das zu erklären?
Nawalny ist noch auf Bewährung wegen einem Gerichtsurteil von 2014. Er hätte sich nach seiner Genesung unverzüglich bei den russischen Strafverfolgungsbehörden melden müssen. Das hat er nicht getan. Aber da gibt es auch mehrere Streitpunkte hinsichtlich des Gerichtsurteils.
Welche sind das?
Zum einen ist da die Frage, ob das Urteil überhaupt gültig ist. Das erste Urteil, bei dem es um die Anschuldigung ging, dass er angeblich Geld unterschlagen hat, wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für ungültig erklärt. Dann gab es einen erneuten Prozess in Russland und auch das Urteil wurde für ungültig erklärt. Außerdem hatte Nawalny selbst erklärt, dass die Gefängnisstrafe, wegen derer er auf Bewährung war, im Dezember 2020 geendet hatte.
Das heißt, er wurde zu Unrecht verhaftet?
Noch einmal: Russland ist kein funktionierender Rechtsstaat. Es gibt hier eine lange Tradition von politisch motivierten Prozessen. Letztlich geht es hier darum, irgendeinen Vorwand zu konstruieren, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Wenn es das nicht gewesen wäre, hätte man sich schnell etwas anderes ausgedacht.
Nun wurde er zu 30 Tagen Haft verurteilt. Ist das im Sinne der russischen Regierung?
Das Gefährliche an Nawalny aus Sicht der russischen Regierung ist vielleicht gar nicht mal, dass er gute Ergebnisse bei Wahlen einfahren könnte. Er darf aufgrund seiner Vorstrafen auch gar nicht mehr kandidieren. Die Gefahr besteht eher darin, dass das System, das er aufgestellt hat mithilfe seiner Stiftung, der Opposition in Russland hilft.
Können Sie sich vorstellen, dass Nawalny aus dem Gefängnis heraus noch Einfluss auf die Opposition haben wird?
Er kann natürlich weiterhin eine Rolle als Galionsfigur übernehmen oder auch zum Märtyrer werden. Aber eine direkte Einflussnahme aus dem Gefängnis heraus ist unwahrscheinlich. Wenn er dort nun einige Zeit verbringt, wird man seine Kommunikation mit der Opposition, aber auch mit Anwälten verhindern.
Ist Nawalny denn sicher im Gefängnis?
Nein. Es ist unerheblich, ob er frei in Russland herumläuft oder im Gefängnis sitzt. Man wird damit rechnen müssen, dass es weitere Mordanschläge auf ihn geben wird. Er schwebt definitiv in Lebensgefahr. Das heißt aber nicht, dass man ihn auch zwingend umbringen wird.
Wäre es nicht zu auffällig, wenn Nawalny in russischer Haft stirbt?
Naja, die russische Regierung hat bereits einmal versucht Nawalny zu töten und das mit dem Nervengift Nowitschok, das sehr eindeutig der russischen Regierung oder Sicherheitskreisen zuzuschreiben ist. Offenbar hat man wenig Skrupel davor, einen Oppositionellen zu töten und versucht es erst gar nicht zu verschleiern.