Seit Mittwochabend um ungefähr 18 Uhr steht fest: Es wird in Deutschland einen zweiten Lockdown geben. Zwar weniger drastisch als der erste im Frühjahr dieses Jahres und Stand jetzt auch kürzer – aber wesentlich schärfer, als viele gehofft hatten. Kitas und Schulen bleiben offen, das war allen Anwesenden bei der anschließenden Pressekonferenz sehr wichtig. Das wirtschaftliche Leben wird in bestimmten Bereichen aufrechterhalten. Alles, was mit Freizeit zu tun hat – Gaststätten, Hotels, Sport- und Kulturveranstaltungen – wird dagegen geschlossen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder verkündeten den zweiten Lockdown, der zunächst für den gesamten November gelten soll, mit bisher ungekannter Einigkeit. Noch Mittwochvormittag hatten einige Ministerpräsidenten, insbesondere der thüringische Landeschef Bodo Ramelow von der Linkspartei, sich gesträubt, die harten Maßnahmen der Kanzlerin mitzutragen. Am Ende hat Angela Merkel sich aber durchgesetzt.
Politikwissenschaftler Klaus Schroeder kritisiert das Zustandekommen der Einigung. Schroeder ist der Meinung, dass die Parlamente ein Mitspracherecht bei den aktuellen Corona-Maßnahmen haben sollten. Im Interview mit watson erklärt er außerdem, warum er eine Klagewelle erwartet – und weshalb ihn die Vorschläge von SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach an Stasi-Zeiten erinnern.
watson: Angela Merkel und die Ministerpräsidenten konnten sich relativ zügig auf diesen neuen Lockdown einigen. Ist das ein gutes Zeichen?
Klaus Schroeder: Ich sehe das sehr kritisch. In einer Demokratie hätte es sich gehört, dass das Parlament darüber diskutiert und die Bundesregierung anschließend auffordert, einen Maßnahmenkatalog zu entwickeln. Jetzt läuft das aber umgekehrt, die Bundesregierung beschließt etwas, setzt dann die Länder unter Druck und anschließend darf der Bundestag das abnicken. Da läuft etwas verkehrt.
Was bedeutet das für unsere Demokratie?
Man wollte nicht groß diskutieren und die Leute daran gewöhnen, dass Dinge beschlossen werden, ohne Debatte. Das ist undemokratisch. Wir haben hier keine Notstandsgesetzgebung. Das ist nicht rechtlich verbindlich, was die Bundesregierung beschließt, sondern Ländersache.
Denken Sie, dass die Gerichte die Maßnahmen noch einmal kippen werden?
FDP-Politiker Wolfgang Kubicki hat nun bereits zum Klagen aufgerufen. Allerdings müsste hier jeder einzeln Klage einreichen. Das ist ein Wahnsinn, darunter könnte unser Rechtssystem zusammenbrechen. Es wäre viel sicherer gewesen, zunächst den Bundestag über die Maßnahmen abstimmen zu lassen.
Nun sollen Schulen und Kitas weiter offen bleiben. Vor allem betroffen sind Hotels und Gaststätten und das Freizeitleben. Ist das sinnvoll?
Ich halte die Maßnahmen für zu pauschal. Wenn man die Studien des RKI ordentlich ausgewertet hätte, hätte man festgestellt, dass in Gaststätten kaum Übertragungen stattfinden.
Die Kanzlerin begründete das Gaststättenverbot damit, dass ein Großteil der Ansteckungen nicht klar zurückverfolgbar seien und man daher die sozialen Kontakte streichen wolle, die nicht dringend notwendig sind. Sprich: alles, was in der Freizeit stattfindet.
Dann verstehe ich aber nicht, warum Gottesdienste weiterhin stattfinden können.
Die sind durch das Grundgesetz geschützt, ebenso wie Demonstrationen...
Während des ersten Lockdowns war es allerdings auch möglich, Gottesdienste zu verbieten. Abgesehen davon: Wirklich kritisch sind laut Studien Großhochzeiten und Geburtstage mit großer Teilnehmerzahl. Das hätte man schon längst verbieten müssen. Es kann nicht sein, dass da fünf bis sechshundert Leute eng beieinander feiern.
Waren wir Ihrer Meinung nach zu nachlässig in den vergangenen Wochen?
Es ist nicht nachvollziehbar, dass man ein halbes Jahr lang nichts gemacht hat. Wir hatten doch seit März Zeit, uns auf die zweite Welle vorzubereiten und uns an die veränderten Umstände anzupassen. Man hat es nicht einmal geschafft, flächendeckende Tests bei Alten- und Pflegeheimen bereitzustellen. Das ist doch absurd. Und jetzt auf einmal kommt man mit dem großen Hammer.
Laut einem Bericht des "Spiegel" hätte die Kanzlerin sogar Karl Lauterbachs Vorschlag, Privatwohnungen zu kontrollieren, befürwortet, konnte sich damit allerdings nicht durchsetzen. Sind solche Kontrollen noch verhältnismäßig?
Ich befasse mich intensiv mit der DDR-Geschichte und der Stasi. Solche Vorstellungen kommen mir sehr bekannt vor. Diese Art von Ideen wird gerade in Ostdeutschland noch einmal massiv zu Widerstand führen. Für die Unionsparteien sehe ich bei einer kommenden Wahl schwarz. Der Widerstand gegen die Maßnahmen wächst.
Wer profitiert von dem Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen aus Ihrer Sicht?
Das wird auf Dauer der AfD in die Hände spielen. Sie ist die einzige Partei, die komplett gegen die Maßnahmen ist. Sie nutzt die Situation aus.
In Umfragen konnte die AfD allerdings bisher kaum profitieren...
Im Frühjahr war ein Lockdown auch noch deutlich leichter umsetzbar, jetzt mit dem kommenden Winter wird es für viele Menschen hart, sich sozial zu isolieren. Wenn sich so ein Lockdown zieht, wird das ordentlich für Ärger sorgen und einen massiven Wutanfall aus vielen Teilen der Bevölkerung geben. Das wird eine bemerkenswerte Wahl im kommenden Herbst.