"Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." Das sagte Bundeskanzlerin Merkel kürzlich bei einer Ansprache zum Umgang mit dem Coronavirus. Ein paar Tage später verkündete sie Maßnahmen, um die Ausbreitung des Erregers zu verlangsamen.
Auch anderorts wurden Schutzmaßnahmen getroffen. Das sorgte für einen nie dagewesenen weltweiten Stillstand. In Italien ist das öffentliche Leben schon seit Wochen zum Erliegen kommen. Inzwischen wird auch die Wirtschaft und industrielle Produktion immer mehr zurückgefahren. Am Montag beschloss die Bundesregierung ein Gesetzespaket zur Bekämpfung der drohenden Wirtschaftskrise im Zuge der Corona-Pandemie, das es in der Form bisher noch nicht gab.
"Das hat eine neue Dimension" sagt der Zeithistoriker Jörn Leonhard zu den gesellschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus im Interview. Er arbeitet an der Universität Freiburg und untersuchte unter anderem die gesellschaftlichen Auswirkungen der beiden Weltkriege.
Watson sprach mit ihm darüber, inwieweit die Corona-Pandemie mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist, wie Krisen Gesellschaften verändern, ob autoritäre Regime wie in China besser mit Krisen umgehen können als Demokratien und wie sich Politiker während der Krise erfolgreich als Macher inszenieren.
Das Fazit von Historiker Jörn Leonhard: "Dass 2020 einen Umbruch markiert, das kann man schon jetzt sagen."
watson: Die Kanzlerin hat die Eindämmung des Corona-Virus als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg erklärt. Sehen Sie das auch so?
Jörn Leonhard: Man muss bei so einem Vergleich immer aufpassen, ob das nicht zu hoch gegriffen ist. Aber in der derzeitigen Situation halte ich den Vergleich für angemessen. Das gilt für die Bundesrepublik, das wird wahrscheinlich auch bald für Westeuropa gelten und für andere Länder der Welt, die solch eine Krise in Friedenszeiten noch nie erlebt haben. Auch die Bundesrepublik, die 70 Jahre lang ihre Krisen hatte, wie die Bedrohung durch die RAF oder die Ölkrise in den 1970er Jahren, kennt so etwas nicht. Das hat eine neue Dimension.
Politiker wie Markus Söder zeigen sich aktuell als Führungspersönlichkeiten. Historisch gesehen: Profitieren Politiker, wenn sie sich in der Krise als Macher profilieren?
Dafür gibt es sehr viele Beispiele aus der Geschichte. Angefangen mit Helmut Schmidt, der sich während des Elbe-Hochwassers 1962 als Hamburger Bürgermeister hervorgetan hat. Oder auch Gerhard Schröder, der als Bundeskanzler 2002 beim Oder-Hochwasser mit Gummistiefeln vor Ort war. Es geht hier auch stark darum, sich medial zu inszenieren und Bilder zu liefern.
Krisen verstärken die Personalisierung politischer Entscheidungsprozesse. Menschen suchen in solchen Situationen sehr intensiv nach Orientierung. Der Typus des Machers profitiert davon eher als ein Politiker, der abwarten will, um die Wirkung von einzelnen Maßnahmen zu prüfen und anzupassen.
Macht das nicht auch anfällig für Populismus?
Ich finde, dass es in Deutschland im Augenblick sehr gut funktioniert. Es gibt natürlich diejenigen, die sich als Krisenbewältiger inszenieren. Zusätzlich kommt hinzu, dass es eine ungeklärte Kanzlerkandidatenfrage in der CDU gibt. Ich möchte weder Söder noch Spahn unterstellen, dass das eine Rolle spielt, aber eine Krise ist kein politikfreier Raum.
Wie meinen Sie das?
Die Wahrnehmung von Politik ist in einer solchen Krise anders als in normalen Zeiten. Wenn Menschen unter dem Eindruck stehen, dass ihr Verhalten über Leben und Tod entscheidet, spielt der Politikertyp des starken Entscheiders eine größere Rolle.
Aus Ihrer Sicht macht Markus Söder also gerade alles richtig, um Kanzler zu werden?
Ich würde vor allem sagen, dass die Kanzlerin aktuell einen sehr guten Job macht. Sie moderiert den Förderalismus gut und vermittelt zwischen den verschiedenen Ministerpräsidenten. Ihr ist es am Sonntag gelungen, eine weitgehend einheitliche Reaktion der Bundesländer zu ermöglichen.
Es wäre nicht gut gewesen, wenn jedes Bundesland andere Maßnahmen einführen würde und ein Flickenteppich aus verschiedenen Regelungen in Deutschland entstünde. In der aktuellen Situation ist es wichtig, dass Menschen der politischen Führung wirklich vertrauen und dafür hat Angela Merkel eine sehr gute Grundlage gelegt. Dazu gehört auch die Einbindung von Markus Söder.
Aktuell wird auch diskutiert, mehr Macht beim Bund zu konzentrieren, und die Freiheiten der Bürger werden immer mehr eingeschränkt. Wundert es Sie nicht, dass sich dagegen so wenig Widerstand regt? In den 1960ern gab es gegen die Notstandsgesetze heftigen Protest…
Da muss man genau hinschauen. Vieles von dem, was aktuell passiert, hat nichts mit etwaigen Notstandsgesetzen zu tun, sondern mit der genauen Umsetzung von exekutiven Maßnahmen. Das wird auch nicht etwa über Dekrete geregelt, wie sich das in Ungarn unter Viktor Orban andeutet. Es existiert weiterhin ein regulärer Entscheidungsprozess über das Parlament. Und so tritt der Bundestag in dieser Woche auch zusammen.
Das Infektionsschutzgesetz lässt weitgehende Eingriffe auch in Grundrechte zu und das passiert im Moment in der Abwägung zwischen dem Schutz der Gesundheit und Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit oder der Religionsfreiheit. Ich höre niemanden in Deutschland, der das im Augenblick kritisiert, eben weil die Situation sehr ernst ist.
Aber wird das so bleiben?
Es wird sehr wichtig sein, über Exit-Strategien nachzudenken: medizinisch, politisch und wirtschaftlich. Sobald die akute medizinische Krise eingedämmt ist, müssen die Maßnahmen auch konsequent wieder zurückgefahren werden. Ich habe aber großes Vertrauen, dass die Parteien im Bundestag sehr verantwortlich auf diesen Prozess blicken. Genau das war in den Weltkriegen natürlich völlig anders, als die Parlamente suspendiert waren und die politischen Führungen ohne parlamentarische Kontrolle agierten.
Hilfe innerhalb der EU wird jetzt größtenteils auf Ebene der Bundesländer praktiziert. Der Ministerpräsident des Saarlandes hat gerade angekündigt, dass er der besonders betroffenen Region Grand Est in Frankreich helfen wird. Ebenso Baden-Württemberg. Sollte Deutschland nicht auch auf Bundesebene helfen?
Ich finde es gut, dass es zunächst auf dieser Ebene läuft, wo es ein sehr eingespieltes Miteinander über die Grenzen gibt. Ich lehre in Freiburg an der Universität. Die Uniklinik hier hat mehrere Corona-Patienten aus dem Elsass übernommen. Dazu braucht es keine über viele hundert Kilometer entfernte Kommunikation über Berlin und Paris, weil die Behörden hier seit vielen Jahren bereits eng mit den Grenzregionen in Elsass und Lothringen zusammenarbeiten.
Die kurzen Dienstwege sind jetzt ein Vorteil. Zudem sind Universitätskliniken Ländersache, sodass die Entscheidungen über die Landesministerien laufen muss. Insgesamt wird das in Frankreich auch sehr klar als Solidarität der deutschen Nachbarn wahrgenommen. Das ist etwas sehr Positives. Davon wünscht man in den nächsten Wochen noch sehr viel mehr, um den schrecklichen Bildern etwas entgegenzusetzen, dass die Grenzen in Europa hochgezogen werden.
Viele schauen aktuell auch nach China und bewundern, wie schnell dort effizient gegen den Virus vorgegangen wurde. Historisch betrachtet: Ist die Diktatur in Krisen effizienter als die Demokratie?
Das ist eine große Frage, die uns weiter begleiten wird. Aber nicht nur China, auch Südkorea ist sehr effektiv gegen das Virus vorgegangen, und das Land ist eben kein autoritäres System. Zudem können wir angesichts der Zensur in China nicht allen Meldungen kritiklos vertrauen.
Ich wäre sehr vorsichtig zu glauben, dass Demokratien einer solchen Krise hilflos ausgeliefert sind, weil sie viel individualistischer sind und die Menschen sich schneller gegen staatliche Regeln wenden. Ein weiteres historisches Beispiel, das uns zumindest zu denken geben sollte, auch wenn die derzeitige Krise etwas ganz anderes ist: Während den beiden Weltkriegen gelang es den demokratischen Staaten sehr viel besser, die gesellschaftlichen Spannungen abzufedern.
Was meinen Sie damit?
Den autoritären oder diktatorischen Regimen fiel es langfristig viel schwerer, das Vertrauen der Menschen in die politischen Entscheidungsprozesse zu sichern. Die Antwort war im Zweifel die Steigerung von Gewalt und Repression. Aber solche Krisen sind auch für demokratische Gesellschaften ein Härtetest, ein Effizienztest für politische Systeme. Dennoch vertraue ich darauf, dass Demokratien diesen Test bestehen. Man darf die Beharrungskraft, die Resilienz und die Kreativität von politischen Prozessen in Demokratien nicht unterschätzen.
Wie ist das in autoritären Gesellschaften wie Ungarn oder der Türkei?
Dort sehe ich viel eher die Gefahr, dass sich bereits vor der Krise vorhandene autoritäre Tendenzen in der Krise weiter verstärken. Nehmen Sie etwa Bolsonaro in Brasilien oder Erdogan in der Türkei, aber auch Orban in Ungarn. In diesen Gesellschaften könnten sich die Rufe nach besonderen Vollmachten der Regierung verstärken.
Zumal die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise noch gar nicht abzusehen sind. In Ungarn versucht Orban ganz offensiv, sich von seinem Parlament besondere Vollmachten einräumen zu lassen – wird er das nach der Krise wieder aufheben? Da fühlt man sich durchaus an die Gefahren eines Ermächtigungsgesetzes erinnert.
Und wie ist das in Deutschland oder Italien, das besonders betroffen ist?
Dort sehe ich diese Tendenzen nicht – die Krise wirkt zunächst eher in denjenigen Gesellschaften verschärfend, in denen bereits zuvor sehr starke autoritäre Figuren die Regierung geprägt haben.
Wie wirken Krisen wie die Corona-Krise, aber auch der Erste und Zweite Weltkrieg auf Gesellschaften?
Krisen verändern Gesellschaften. Besonders dann, wenn sie so massiv und plötzlich eintreten und länger dauern. Aber die Wirkungen sind komplex und widersprüchlich. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde in Deutschland das Wahlrecht für alle Frauen ab 21 Jahren eingeführt. Das war aber nicht einfach die Folge einer Emanzipation der Frauen, die in der Kriegswirtschaft während des Ersten Weltkriegs gearbeitet hatten.
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in vielen Gesellschaften einen regelrechten Roll-Back, also einen Rückschritt in konservativere Rollenbilder von Frauen, in denen viele Regierungen die Mütter und Ehefrauen erblickten. Trotzdem trug die Erfahrung dieser Frauen im Ersten Weltkrieg auf lange Sicht zur Emanzipation bei. Krisen wirken häufig als Katalysatoren gesellschaftlicher Entwicklungen, aber oft auch auf indirekten Wegen. Sie beschleunigen, aber sie sind nicht die alleinige Ursache für etwas völlig neues.
Wenn man das jetzt auf die aktuelle Situation überträgt. Viele Menschen haben die Hoffnung, dass die sogenannten „systemrelevanten Berufe“ wie Krankenpfleger, Kindergärtner oder auch Kassierer im Supermarkt mehr Anerkennung durch die aktuelle Krise erfahren. Ist das realistisch?
Das ist denkbar, aber die Erfahrung aus der Geschichte ist eher ernüchternd. Viele Gesellschaften haben nach einer Krise ein eher kurzes Gedächtnis. Ich würde es mir anders wünschen, aber ich glaube, sobald man einen Impfstoff hat und die Krise eindämmen kann, werden ganz andere Fragen in den Vordergrund rücken.
Welche wären das?
Es wird dann sehr viel stärker um die Fragen gehen, wie man mit den vielen wirtschaftlichen Opfern der Krise umgeht und wie man die enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen abfedern kann. Und was bedeutet es für die EU, wenn Länder wie Italien nach der medizinischen in eine schwere wirtschaftliche Krise geraten? Die unmittelbaren Fragen, die wir jetzt während der Krise stellen, sind andere als nach der Krise. Die einstweilen symbolische Anerkennung dieser „systemrelevanten Berufe“ reflektiert eben auch den Eindruck, dass sie mit Leben oder Tod zu tun haben.
Und danach ist uns das wieder egal?
Es wird sicher ein Bewusstsein dafür geben, was diese Menschen geleistet haben – so war es mit den New Yorker Feuerwehrmännern auch nach 9/11. Aber in dem Augenblick, in dem die medizinische Krise abklingt, wird sich die öffentliche Aufmerksamkeit auch wieder verändern. Das Interesse an dem Lastwagenfahrer, der dafür verantwortlich war, dass Lebensmittel und Toilettenpapier erhältlich waren, wird nicht sehr lange anhalten. So zynisch das leider klingen mag.
Das ist wirklich ernüchternd…
Ich würde es mir anders wünschen. Aber vergessen wir nicht, dass diese Krise sehr viele unterschiedliche Opfer hervorbringen wird. Jetzt sind unmittelbar die Erkrankten. Aber in ein paar Monaten werden die wirtschaftlichen und sozialen Opfer immer deutlicher werden. Da ist es ein großer Unterschied, ob man Beamter ist oder Angestellter in einem großen Automobilunternehmen, das staatlich geschützt wird oder eben Solo-Selbstständiger mit einer auslaufenden Übergangshilfe.
Wie werden wir aus der Zukunft auf das Jahr 2020 zurückblicken?
Das machen Historiker eigentlich grundsätzlich nicht. Man kann erst mit einem zeitlichen Abstand, mit Blick auf die mittel- und langfristigen Konsequenzen eines Ereignisses, entscheiden, was eine Epochenschwelle ist und was nicht. Die Menschen im Sommer 1789 wussten nichts vom Wendepunkt der Geschichte, den wir heute als Beginn der Französischen Revolution bezeichnen. Die Epochenschwellen sind das Ergebnis einer rückblickenden Logik.
Können Sie es uns zuliebe trotzdem versuchen?
Das, was im Augenblick passiert und die Geschwindigkeit, mit der viele Dinge sich entwickeln, die man noch vor kurzer Zeit für undenkbar hielt, rechtfertigt jedenfalls die Erwartung eines tiefen Umbruchs, eines Wendepunktes, vielleicht gar einer Epochenzäsur. Welche politischen, wirtschaftliche, sozialen und kulturellen Auswirkungen das langfristig hat, kann man im Moment nicht sagen. Aber dass 2020 einen solchen tiefen Umbruch markiert, den man noch vor kurzem nicht in Ansätzen absehen konnte und der das Gefühl der relativen Sicherheit schwer erschüttert: das kann man schon jetzt sagen.