Am Freitag ist der Tag der Tage. Am 31.1. um 24 Uhr treten die Briten nach jahrelangen Verhandlungen und einer schier endlosen Odyssee aus der Europäischen Union aus.
Nachdem die (ehemaligen) britischen Premierminister David Cameron und Theresa May daran gescheitert waren, einen Deal mit der EU auszuhandeln, hat es Boris Johnson im vergangenen Herbst endlich geschafft, sich mit der EU zu einigen.
Trotzdem sind noch viele Fragen ungeklärt und sollen während einer Übergangsphase bis Ende 2020 geklärt werden.
Watson hat mit dem Wirtschaftsexperten Gabriel Felbermayr vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel gesprochen. Er erklärt, warum Boris Johnson das geschafft hat, was Theresa May nie gelungen ist – und warum ein böses Erwachen noch folgen könnte, wenn nicht innerhalb von einem Jahr eine Einigung mit den Briten gefunden wird.
watson: Sie hatten in der Vergangenheit den Brexit-Deal von Theresa May kritisiert. Der wurde dann nicht angenommen und neu verhandelt. Ist der aktuelle Deal besser?
Gabriel Felbermayr: Aus EU-Sicht ist der neue Deal schlechter als der May-Deal. Nun gibt es eine komplexe Rückfalllösung, sollte kein Freihandelsabkommen gelingen. Nordirland ist in diesem Fall faktisch gleichzeitig Teil des britischen Zollgebiets und Teil des europäischen Binnenmarktes. Im Vergleich zur May-Lösung und dem Backstop, der einen Verbleib Großbritanniens in der EU-Zollunion vorgesehen hatte, ist die Johnson-Lösung deutlich teurer, bürokratisch extrem aufwändig und es droht massiver Betrug. Denn: Will die EU Nordirland nicht zum Einfallstor für unverzollte Waren werden lassen, ist sie auf die britische Zollbehörde angewiesen – die sie allerdings nicht kontrollieren kann.
Wie würden Sie die Rolle von Boris Johnson bei den Brexit-Verhandlungen bewerten?
Er hat eine Strategie gewählt, den Druck möglichst zu erhöhen, um Lösungen in seinem Sinne zu erzielen. Unterm Strich muss man sagen, dass er den monatelangen Stillstand damit zumindest überwunden hat.
Das heißt, er war cleverer als Theresa May?
Er hat glaubwürdiger als seine Vorgängerin damit gedroht, zur Not einen No-Deal zu riskieren. Zudem ist er offenbar ein geschickterer Wahlkämpfer, denn er hat für seine Politik nun eine komfortable Unterhaus-Mehrheit, auf die May nicht setzen konnte.
Laut Finanzminister Olaf Scholz wird der Brexit für die EU keine größeren Belastungen mit sich bringen. Glauben Sie ihm das?
Das ist überhaupt noch nicht klar. Es beginnt ja nun erst einmal die nächste, sehr schwierige Verhandlungsphase mit den Briten. Wenn bis Jahresende keine Einigung zustande kommt, ist ein No-Deal noch immer möglich. Und der wäre auch für die EU teuer. In jedem Fall fallen die Nettobeiträge der Briten zum EU Budget weg. Die Briten waren einer der größten Beitragszahler. Das bedeutet zwangsläufig eine weitere Belastung.
Welche Folgen erwarten Sie da für Deutschland?
Wenn es zu keinem Handelsabkommen kommt, entstehen beträchtliche Kosten. Deutsche Exporteure müssten Zölle für Exporte nach Großbritannien zahlen. Gleichzeitig würde sich Großbritannien stärker gegenüber Nicht-EU-Ländern öffnen, das heißt, es kommt zu mehr Konkurrenz auf dem britischen Markt für Lieferanten aus Deutschland. Ein No-Deal brächte also große Schäden für Deutschland, wenngleich die hiesige Wirtschaft ausreichend diversifiziert ist, um das mittelfristig abfangen zu können.
Und wie sehr belastet der Brexit Deutschland als Exportnation?
Das ist spürbar und ein zusätzlicher belastender Faktor in einem ohnehin schon schwierigen weltwirtschaftlichen Umfeld. Zum Glück gibt es allerdings auch in vielen anderen Ländern Abnehmer deutscher Produkte, so dass gesamtwirtschaftlich der Schaden überschaubar bleibt. Einzelne Unternehmen mit einem Exportschwerpunkt in Großbritannien sind allerdings stark betroffen.
Und umgekehrt: Wie schwer wird es Großbritannien treffen?
Vielleicht überraschend könnten die unmittelbaren Folgen des Brexit für die Briten nicht so drastisch ausfallen, wie vielfach vermutet. Im Falle eines Handelsabkommens sind sie ohnehin gering. Aber selbst in einem No-Deal-Szenario haben die Briten angekündigt, mit einer geschickten Zollpolitik dafür zu sorgen, dass britische Importeure und Konsumenten möglichst wenig belastet werden. Wie stark Großbritannien mittelfristig leiden wird, hängt sehr stark davon ab, wie die künftigen Beziehungen zur EU aussehen. Das werden wir frühestens gegen Jahresende wissen.
Zur Zeit des Referendums 2016, wurde mit dem Verlust von bis zu 950.000 Arbeitsplätzen in Großbritannien gerechnet. Ist das nach wie vor realistisch?
Dazu kann man im Moment kaum eine Aussage treffen, weil dies davon abhängt, wie hart der Brexit am Ende tatsächlich ausfällt. Klar ist aber, dass das Wirtschaftswachstum seit 2016 schon unter der Unsicherheit gelitten hat. Ohne Brexit stünde die britische Wirtschaft und damit auch der Arbeitsmarkt besser da. Arbeitsmarktverluste von knapp einer Million waren aber sicher zu hoch gegriffen, vor allem in der langen Frist.
Wenn jetzt ein Abkommen zustande kommt, wie wird sich das auf wirtschaftliche Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien auswirken?
Die Briten werden ja auch nach einem Abkommen in sehr vielen Bereichen mehr Eigenständigkeit haben. Als Nicht-EU-Mitglied werden sie auch nicht mehr alle Vorteile der Kooperation innerhalb der EU genießen können. Aber das genaue Bild werden wir erst haben, wenn klar ist, ob es zu einem Abkommen kommt und wie dieses aussieht.
Der Brexit betrifft ja nicht nur die klassische Wirtschaft. Der englische Fußball ist auch betroffen. In der Premier League sind über 60 Prozent der Profis nicht aus England. Wie wird sich das auswirken?
Die Personenfreizügigkeit wird voraussichtlich nicht mehr so groß sein wie bislang. Das könnte zumindest die formalen Hürden für EU-Spieler erhöhen, die auf der Insel kicken wollen. Aber der internationale Transfermarkt beschränkt sich ja nicht auf die EU, und es sind auch für Spieler aus Nicht-EU-Ländern immer Lösungen zu finden. Für Spitzensportler, Entertainment-Stars und Spitzenmanager gelten praktisch eigene Regeln.
Wird die USA für Großbritannien eine wichtigere Rolle spielen als bisher?
Das wird sich zeigen. Zumindest werden die Briten parallel zu den Verhandlungen mit der EU ein Abkommen mit den USA vorantreiben. Das ist nicht ungeschickt, denn sie können dann die möglichen Zugeständnisse beider Verhandlungspartner gegeneinander ausspielen. Ob die Briten am Ende ein besseres Abkommen mit den USA als mit der EU erreichen, wird auch vom Verhandlungsgeschick der Unterhändler der EU abhängen.
Nach den Erfahrungen, die man mit dem Brexit gemacht hat: Ist es nun ein Anreiz oder ein abschreckendes Beispiel für andere Nationalstaaten, die EU zu verlassen?
Wenige Länder der EU sind in der gleichen Lage wie Großbritannien. Die Briten haben eine starke Finanzindustrie, einen eigenen großen Binnenmarkt und sind in vielerlei anderer Hinsicht weniger verflochten mit der EU. Sie sind deshalb auch weniger auf den Handel mit EU-Ländern angewiesen als viele andere Ländern der Union, denen ein Exit deutlich mehr schaden würde. Ich glaube nicht, dass die Briten viele Nachahmer finden werden.
Wie wird sich die EU ohne Großbritannien auf längere Sicht entwickeln?
Der Brexit nimmt der EU geopolitisches Gewicht, weil ein wirtschaftliches großes Land mit einer großen Tradition in der internationalen Politik die EU verlässt. Wie schwerwiegend dieser Verlust ist, wird davon abhängen, in welchen Feldern die EU und Großbritannien nach 2020 noch zusammenarbeiten und gegebenenfalls wie eng. Ich plädiere dafür, den Briten ein großzügiges Angebot zur weiteren Kooperation zu machen, um sie an die EU zu binden und damit den Verlust an geopolitischem Gewicht so gering wie möglich zu halten.