Man stelle sich folgendes Szenario vor:
Es ist Nacht in Kiew. Eine Frau und ihr Mann liegen im gemeinsamen Ehebett, die zwei Kinder in ihren jeweiligen Zimmern. 5 Uhr. Es knallt. Die Erde bebt. Die Ohren fühlen sich taub an von dem Lärm. Bis auf das Pfeifen, dieses unerträgliche Pfeifen im Gehörgang.
Menschen schreien. Der Geruch von Rauch, das Krachen zusammenbrechender Häuser, der Geschmack von Staub durchdringen die Schlafzimmerwände.
Es ist Krieg. Und der Mann darf nicht fliehen.
Die Frau packt die Kinder ein, packt Bargeld ein, küsst ihren Mann, weint – und geht.
Nun ist sie nach einer solchen Nacht auf der Reise. Zwei Kleinkinder, zwei Rücksäcke, ein Koffer, Todesangst, Trauer und Wut begleiten sie.
Stunden-, tagelang findet sie keine Ruhe. Sie steht im Stau, während sie dabei zusieht, wie ihre Stadt zerbombt wird. Sie versucht, sich in Züge zu quetschen, die überfüllt sind. Immer auf der Hut, dass sie ihre Lieblinge ja nicht aus den Augen lässt.
Bis sie endlich im Berliner Hauptbahnhof ankommt. Völlig erschöpft. Hungrig. Durstig. Die Kinder sind paralysiert, es tut ihr weh, sie anzuschauen.
Dann, am Bahnhof, fühlt sie endlich ein kleines, ein winzig kleines bisschen Glück. Sie sieht die Menschenmassen. Die vielen Leute, die sie dort empfangen, ihre Hilfe anbieten: Wasser, Essen, Hygieneprodukte, Spielsachen für die Kleinen, ein Zuhause – für kurze Zeit.
Ein bisschen Ruhe.
Ein Mann lächelt sie an, sagt ihr, er könne ihr und den Kindern ein Zimmer zur Verfügung stellen. Sie nimmt alles, was sie kriegen kann.
Dieser nett lächelnde Mann nimmt sie mit – und verkauft sie als Sexsklavin.
Ein Horrorszenario.
Geflüchtete sind Schutzsuchende. Geflüchtete Frauen und Kinder sind die Verwundbarsten darunter.
Es ist unsagbar, es ist unbeschreiblich, nicht vorstellbar, wie niederträchtig dieser menschliche Abschaum sein muss, um solche Situationen auszunutzen.
Egal, woher Frauen und Kinder fliehen: Auf ihrer Flucht sind sie besonders häufig von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung bedroht und betroffen. Das schreibt auch das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR auf seiner Website.
Frauen, so heißt es beim UNHCR weiter, hätten in diesem Kontext oft selbst zu grundlegenden Rechten – Sicherheit, Nahrung, Gesundheit, Unterkunft, Nationalität und Bildung – nur eingeschränkten Zugang. Schon alltägliche Tätigkeiten wie Wasser holen oder zur Toilette gehen könnten demnach vertriebene Frauen und Mädchen der Gefahr von Missbrauch aussetzen.
Momentan erleben wir innerhalb Europas eine enorme Flüchtlingsbewegung. Anders als noch 2015/2016 ist der Großteil der Vertriebenen heute weiblich und/oder minderjährig. Berichte über dubiose Angebote von Männern an Bahnhöfen mehren sich.
Auch die Bundespolizei Berlin hat über mehrere Kanäle vor suspekten Angeboten gewarnt.
Sexualisierte Gewalt, Menschenhandel und andere Formen von Missbrauch sind während der Flucht mitunter die größten Gefahren, denen Frauen und Kinder ausgesetzt sind. Ähnlich beschreiben es auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International und mehr als 40 Frauen- und Nichtregierungsorganisationen in einer Erklärung zum Weltfrauentag: "Krieg und damit einhergehend Vertreibung und Flucht bedeuten für Frauen und Mädchen immer die Bedrohung durch sexualisierte Gewalt, die weltweit ein Phänomen aller bewaffneten Konflikte ist."
Angaben des UNHCR zufolge sind mehr als 2,5 Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Frauen und Kinder befänden sich in einer Lage, "nach der Leute wie Menschenhändler Ausschau halten, um sie auszunutzen", sagt Joung-ah Ghedini-Williams, Chefin für globale Kommunikation beim UNHCR, im ZDF. In ganz Europa wurden die Ankommenden von Freiwilligen begrüßt, wurde ihnen Hilfe angeboten. In einigen Ländern mischen sich Geheimdienstler unter die Helfenden, um die Kriminellen aufzuspüren, bevor sie ihr Unheil anrichten.
Das wichtigste muss es jetzt sein, diesen Schutzbedürftigen auch wirklich Schutz zu bieten. Es reicht nicht, nur über soziale Medien aufzuklären und hier und dort ein paar Polizistinnen und Polizisten abzustellen, wie es etwa in Berlin die Bundespolizei tut.
Es hat sich zu Beginn der Ankunft der vielen Menschen gezeigt, dass in Deutschland Bund und Länder nicht genügend vorbereitet waren. Hilfsorganisationen und Freiwillige haben sich zusammengefunden und die Ankunft und Vermittlung der Menschen an private Helferinnen und Helfer koordiniert.
Von Regierungsverantwortung war zu Beginn nicht viel zu spüren. Und genau das ist so gefährlich. Was, wenn nur eine Frau mit einem dieser Männer mitgegangen ist? Was, wenn es mehrere waren?
Was, wenn sie jetzt weiter leiden müssen?
Laut einem Bericht der polnischen Hilfsorganisation "Homo Faber" sollen in Polen bereits Kinder verschwunden sein.
Von Anfang an hätte der Bund - Sozialministerium, Innenministerium, Familienministerium, Verkehrsministerium – hier die Verantwortung übernehmen müssen. Es hätten schnell und unbürokratisch Entwickler bereitstehen müssen, die Internetseiten für private Helfende auf die Beine stellen (das haben übrigens Hilfsorganisationen innerhalb kürzester Zeit geschafft).
Warum die Internetseite? Für die Registrierung der Helfenden!
Denn genau unter sie mischen sich ja die Kriminellen. Hier hätten Personalien überprüft, Adressen gespeichert, Hintergründe wie das polizeiliche Führungszeugnis gecheckt werden müssen: damit die Hürden für Menschenhändler so hoch wie möglich sind.
An den Bahnhöfen werden Flyer mit Warnungen vor Kriminellen in verschiedenen Sprachen verteilt – wieder auf Initiative einer Hilfsorganisation. Es ist fast schon peinlich, wie wenig vorbereitet man auf solche Szenarien war.
Natürlich ist die Situation auch komplexer, als sie sich möglicherweise erst einmal darstellt. Vorschnell irgendwelche Forderungen in den Raum werfen, kann dann auch schnell nach hinten losgehen: Da gibt es beispielsweise den sächsischen Verfassungsschutz, der eine Registrierung aller Geflüchteter fordert. Zum "Schutz unserer Bürger", aber auch zu ihrem eigenen Schutz.
Tatsächlich genießen ukrainische Bürgerinnen und Bürger in der EU Freizügigkeit. Sie dürfen sich hier im Land frei bewegen, ohne Grenzkontrollen, ohne Registrierung. Das ist ein Teil der Freiheit, der Demokratie, für die die Menschen vor Ort gerade kämpfen und sterben. Den Flüchtenden diesen Status zu entziehen, wäre zynisch.
Wichtig wäre Folgendes:
Viele, darunter Menschenrechtsorganisationen sowie EU-Politikerinnen und -Politiker, fordern einen besseren Schutz flüchtender ukrainischer Kinder und Frauen.
Hört auf sie, gebt ihn ihnen! Das hat jetzt höchste Priorität