Die Grünen-Politikerin Ricarda Lang hat angekündigt, für das Amt der Parteivorsitzenden zu kandidieren. Die im September erstmals gewählte Bundestagsabgeordnete genießt über Parteigrenzen hinweg Ansehen und ist eine gefragte Gesprächspartnerin.
Nach eigener Aussage habe sie sich gemeinsam mit ihrer Partei "nicht weniger vorgenommen, als unsere Gesellschaft sozial und ökologisch umzubauen". Eine recht große Mission.
Dass sie dieses Ziel verfolgt, ohne einen Studienabschluss oder eine Berufsausbildung zu haben, werfen ihr politische Gegner immer wieder vor.
Die ehemalige Sprecherin der Grünen Jugend hat von 2012 bis 2019 Jura studiert, aber keinen Abschluss gemacht.
Wer "nichts gelernt" und nie gearbeitet habe, so lautet der Vorwurf in ihre Richtung, sei nicht in der Position, über das Leben von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern zu bestimmen.
Ricarda Lang ist immer wieder das Ziel von Hetzkampagnen, in denen es nicht um sachliche Kritik geht – sondern darum, Hass auf Frauen und linke Menschen in die Welt zu blasen.
Aber es gibt auch Menschen außerhalb radikaler Kreise, die irritiert sind von spärlichen Politiker-Biografien wie der Ricarda Langs.
"Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal" – so und so ähnlich lautet der Vorwurf, den zum Beispiel der 2017 verstorbene ehemalige CDU-Generalsekretär und Bundesminister Heiner Geißler vorgebracht hatte.
Diese Leute seien ihm "suspekt", heißt es über Geißler in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung. Er verlange "profunde Mindestkenntnisse: einen abgeschlossenen Beruf und wenigstens ein bisschen Praxis."
Was ist dran an diesen Forderungen? Sollten junge Menschen erst mal ihr eigenes Geld verdienen, bevor sie politische Verantwortung übernehmen?
Politik, das ist die Arbeit an Entscheidungen, die alle betreffen. Jeder Angestellte bekommt mehr oder weniger Gehalt aufs Girokonto überwiesen – je nachdem, wie hoch oder niedrig die Steuersätze sind, die Politiker in Landtagen und im Bundestag vorher festgelegt haben. Jede Selbstständige hat wegen dieser Entscheidungen mehr oder weniger Geld, um es in die eigene Firma zu stecken. Wenn Politikerinnen und Politiker entscheiden, mehr oder weniger öffentliches Geld in Straßen oder Schienen zu stecken, dann spürt das früher oder später jede und jeder bei Autofahrten oder Zugreisen.
Es gibt deshalb gute Argumente dafür, dass Erfahrung und Expertise in der Arbeitswelt wichtige Voraussetzungen für politische Ämter sind. Das weiß auch Kevin Kühnert, seit 11. Dezember Generalsekretär der SPD, also einer der mächtigsten sozialdemokratischen Politiker Deutschlands – und Studienabbrecher. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr, einem abgebrochenen Studium und dreieinhalb Jahren jobben im Call Center ging es für den heute 32-Jährigen in die Politik.
Kühnert hat sich immer wieder anhören müssen, dass er doch keine Ahnung habe vom richtigen Leben. Besonders laut wurden solche Stimmen im Mai 2019, als er sich in einem Interview dafür aussprach, Unternehmen wie BMW zu kollektivieren. Und er selbst hat kürzlich deutlich gemacht, dass berufliche Erfahrung entscheidend für die Frage sein kann, wer politische Macht bekommt.
Als Kühnert pünktlich zu Nikolaus verkündete, dass sein Parteifreund Karl Lauterbach neuer Gesundheitsminister wird, war die allgemeine Freude groß. "Nikolaus ist, wenn Wünsche erfüllt werden. Ihr wolltet ihn – ihr kriegt ihn", twitterte der SPD-Politiker triumphierend. Knapp 55.000 Menschen setzten ein Like unter den Beitrag.
Auch außerhalb der sozialen Netzwerke gab es quer durch die demokratischen politischen Lager Zustimmung für Lauterbach, den Mediziner, der an der US-amerikanischen Elite-Universität Harvard einen „Master of Public Health“-Abschluss mit Schwerpunkt Epidemiologie machte und dort Gastprofessor ist.
Eine gute Wahl in Zeiten einer Jahrhundert-Pandemie, meinen viele Befürworter. Dass Lauterbach in der Lage ist, ein Ministerium mit rund 700 Bediensteten und der Fachaufsicht über Behörden wie das Robert-Koch-Institut zu leiten, muss er noch beweisen. Dass seine Erfahrung ihn im Umgang mit Infektionskrankheiten für den Job qualifiziert, hat ihm aber unter anderem auch CSU-Chef Markus Söder bescheinigt.
Andererseits: Es wäre schlecht, wenn nur Menschen wie Karl Lauterbach in Parlamenten säßen und Ministerien führten. Wenn nur Frauen und Männer über 50, Fachleute mit Professorentiteln, die politische Macht hätten – wie wäre es dann um die Interessen junger Menschen bestellt?
"Volksvertretung", das ist die deutsche Entsprechung für Parlament. Der Anspruch, dass möglichst viele Gruppen tatsächlich dort vertreten sind, wo Entscheidungen für alle getroffen werden, wird in Deutschland heute so ernst genommen wie wohl nie zuvor in der Geschichte. Alle demokratischen Parteien, von Linkspartei bis CSU, bekennen sich dazu, mehr Frauen, mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in politische Verantwortung zu bringen – und mehr junge Menschen.
Und das, obwohl junge Menschen eben deutlich weniger Erfahrung haben als ältere. Ihnen fehlt der Doktortitel oder die jahrelange Expertise als Handwerksmeister – dafür sind die meisten von ihnen in der digitalen Welt zu Hause, deutlich mehr von ihnen haben frische Ideen und den Mut, Althergebrachtes infrage zu stellen.
Warum sollte Ricarda Lang keine gute Klima- oder Kevin Kühnert keine gute Arbeitsmarktpolitik machen können? Beide genießen hohes Vertrauen in ihren Parteien und haben sich noch keine größeren inhaltlichen Patzer geleistet. Beide können Diskussionen mit frischen Ideen bereichern, die ältere Berufserfahrene sofort vom Tisch wischen würden – mit diesem Satz, der viele junge Menschen auf die Palme bringt: "Das haben wir aber immer schon so gemacht."
Volksvertreterinnen und Volksvertreter sollten eine möglichst große Breite der Bevölkerung abbilden, nicht alle von ihnen müssen etwas Spezielles gelernt haben: Auch das ist ein richtiges Argument.
Denn viele 20-Jährige bringen Lebenserfahrung mit, die der 60-jährige Juraprofessor nie gemacht hat: Wie es ist, als Person of Color in Deutschland aufzuwachsen, welche Hürden jemand nehmen muss, dessen Eltern von Hartz IV leben, welche psychische Belastung das Transsexuellengesetz Menschen abverlangt, denen ihr biologisches Geschlecht eine Last ist.
Auch deshalb werden Integrationsministerien meist von Migrantinnen geführt. Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte sind in der Regel weiblich, so zum Beispiel in sämtlichen zwölf Bezirken des Landes Berlin. Und deswegen ist es eine Errungenschaft für Deutschland, dass der Grüne Cem Özdemir Landwirtschaftsminister ist – auch, wenn er weder Bauer ist noch Agrarökonomie studiert hat. 60 Jahre, nachdem Deutschland begonnen hat, Menschen aus der Türkei abzuwerben, damit sie als "Gastarbeiter" in Fabriken schuftend die Wirtschaft ankurbeln, sitzt ein Sohn zweier von ihnen am Kabinettstisch – nachdem er fast drei Jahrzehnte lang als Parlamentsabgeordneter gearbeitet hat. Özdemir ist qualifiziert.
Denn eine Tatsache übersehen viele der Menschen, die jedes Mal die Nase rümpfen, wenn Menschen ohne Berufserfahrung außerhalb der Politik ein Amt übernehmen: Die Politik selbst ist ein ganz besonderer Beruf. Zu wissen, wie Bundestag und Bundesrat funktionieren, sich schnell in neue Themen einarbeiten, die eigene Position in heißen Diskussionen durchboxen, möglichst gut Kompromisse finden – und die Fähigkeit, Arbeitswochen mit manchmal 60 oder 70 Stunden gesund zu überstehen: Das sind Fähigkeiten, die nicht jede und jeder hat.
Junge Volksvertreter wie Ricarda Lang und Kevin Kühnert werden noch viel Kritik aushalten müssen. Und ja, sie sollten sich auch den Menschen stellen, die ihnen mangelnde Berufserfahrung vorwerfen – solange die Kritik sachlich ist und keine Beleidigungen enthält. Aber wer will, dass junge Menschen sich politisch engagieren, muss auch akzeptieren, dass sie das tun, bevor sie irgendwo zehn Jahre Betriebsjubiläum gefeiert haben.