Das häufigste Bild, in dem Politikerinnen, Mediziner und andere Bürger über das Coronavirus reden, ist seit Monaten das der Wellen. Erste, zweite, dritte Welle, wie die auf- und absteigenden Kurven auf den Diagrammen mit den Infektions- und Todeszahlen. Je höher eine Welle ist, desto bedrohlicher ist sie. Und desto höhere Dämme, desto strengere Schutzmaßnahmen sind nötig, um sie zu brechen. So müsste es sein, eigentlich.
Es ist aber nicht so. Und das ist die wohl größte Fehlleistung in der deutschen Corona-Politik.
Die Entscheidung, die für Montag geplante Ministerpräsidentenkonferenz abzusagen und stattdessen endlich über eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu sprechen, ist deshalb richtig. Sie kommt aber spät, unglaublich spät.
Die erste Corona-Welle erreichte Anfang April 2020 ihren Scheitelpunkt, damals wurden 6.700 neue Infektionen am Tag festgestellt. Das Leben im Land stand da schon wochenlang in weiten Teilen still, von den Schulen zu den Restaurants. Die Grenzen waren für Privatreisen geschlossen, die Mobilität ging drastisch zurück. Dann, im Oktober 2020, schwoll die zweite Welle an: 10.000, 16.000, 20.000 Neuansteckungen täglich – bis sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die 16 Chefs der Landesregierungen schließlich auf einen "Lockdown light" einigten. Den wiederum verschärften sie erst Wochen später, kurz vor Weihnachten. Die meisten Geschäfte mussten erst zusperren, als in der Spitze 30.000 Ansteckungen in 24 Stunden festgestellt wurden.
Seither wurstelt sich das Land durch diese halbzugesperrte Zeit. Es wird geimpft, sogar immer schneller. Aber es sind noch längst nicht genug Menschen geschützt, um die dritte Infektionswelle am Anschwellen und Aufschäumen zu hindern. Tag für Tag wird bei Tausenden weiteren Menschen das Coronavirus diagnostiziert. Tag für Tag sterben seit November Dutzende bis Hunderte weitere Menschen an Covid-19, dieser hundsgemeinen Krankheit. Und viele derer, die überleben, werden von ihr gezeichnet sein, manche vielleicht ihr Leben lang.
Wer, wie CDU-Chef Armin Laschet, behauptet, man habe das alles nicht kommen sehen, macht sich lächerlich. Schon im Frühjahr 2020 hat Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité, gesagt, dass ihm eine zweite Welle nach sommerlicher Entspannung große Sorgen bereite – und die zweite Welle kam, höher und tödlicher als die erste. Anfang 2021 hatte er davor gewarnt, dass bald deutlich mehr jüngere Menschen mit Covid-19 auf den Intensivstationen liegen würden – und der Altersschnitt dort sinkt und sinkt.
Es ist wahr, dass die meisten anderen Länder in Europa ähnliche Fehler gemacht haben im Umgang mit der zweiten und dritten Infektionswelle. Aber das macht es nicht weniger schwer erträglich, wie sehr sich manche Ministerpräsidenten seit Wochen und Monaten davor drücken, der Bevölkerung die harten Einschränkungen zuzumuten, die jetzt noch nötig sind. Wenn etwa Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagt, die Lage auf den Intensivstationen sei "entspannt", dann ist das eine Frechheit. Erstens den Pflegekräften gegenüber, denen weiterhin die Patienten unter den Beatmungsgeräten wegsterben. Zweitens den Angehörigen dieser Menschen.
Die Klinik für Anästhesiologie der Uni Göttingen hat auf Twitter auf die Aussage des niedersächsischen Ministerpräsidenten Weil geantwortet.
Und drittens ist es unverantwortlich, die Belastung der Intensivstationen als wichtigstes Kriterium zu sehen. So zu tun, als sei schon alles in Butter, wenn in einer Klinik nur 10 von 30 Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sind. Das Ziel der Pandemiebekämpfung sollte es sein, dass so wenige Menschen wie irgendwie möglich mit Covid auf der Intensivstation landen.
Es ist ja wirklich Besserung in Sicht: ein Sommer, in dem geimpft ist, wer mag. Ein Sommer mit einem großen Teil der Freiheit, das Leben mit den Mitmenschen zu genießen, zurückkehrt. Umso schändlicher ist es, jetzt noch Menschen unnötig in Lebensgefahr zu bringen.
Eine bundesweite Notbremse ist richtig, reicht aber nicht
Es ist höchste Zeit, den Damm gegen die dritte Welle aufzustocken. Der Plan, im Infektionsschutzgesetz für ganz Deutschland zu regeln, was passiert, wenn in einer Region auf 100.000 Menschen mindestens 100 Neuinfektionen kommen, kann dabei wenigstens helfen. Deutschland hätte damit eine Art Ampelsystem mit zwei Farben: Rot bei einer Inzidenz über 100, Gelb bei unter 100. Liegt die Inzidenz unter 100, haben die Länder wieder die Entscheidung in der Hand, was erlaubt ist und was verboten.
Nur reicht das eben nicht.
Erstens, weil auch eine Inzidenz von 70 oder 50 weiterhin zu hoch ist, damit das passiert, was im Sommer 2020 zumindest teilweise möglich war: die meisten lokalen Virusausbrüche entdecken, nachverfolgen, die Infektionsketten stoppen. Es braucht daher verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker in Ländern und Kommunen, denen klar ist, dass die Corona-Zahlen jetzt weiter sinken müssen. Die nicht bei 90 Ansteckungen auf 100.000 Einwohner wieder alles sperrangelweit öffnen, sondern die verstehen, dass mit jojoartigem Schließen, Öffnen und Schließen niemandem geholfen ist. Erst müssen die Zahlen runter, dann sind Öffnungen, verbunden mit verpflichtenden Corona-Tests, wieder möglich, das hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Freitag richtigerweise gesagt.
Damit diese Botschaft bei möglichst vielen Menschen ankommt, wäre es zweitens wichtig, dass Angela Merkel noch einmal ihre Autorität dort einsetzt, wo sie am stärksten wirkt: in einer Fernsehansprache.
Warum eine TV-Ansprache der Kanzlerin helfen würde
Merkel hat sich im März 2020 zum bisher einzigen Mal in fast 16 Jahren Kanzlerschaft außerhalb der Neujahrsansprache an die Menschen gewandt, um sie vor dem Coronavirus zu warnen. 25 Millionen Menschen sahen das damals alleine live im Fernsehen, 1,5 Millionen Abrufe für das Video gab es alleine im Youtube-Kanal der Tagesschau. Zwei Sätze aus dieser Ansprache werden ziemlich sicher in ein paar Jahren in Geschichtsbüchern stehen: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst."
Es ist Zeit für eine zweite Kanzlerin-Ansprache, zur besten Sendezeit. Reden direkt an die Bürger haben eine andere Wirkung als Interviews. Merkel sollte in ihrer Ansprache deutlich machen, worauf es in den kommenden Wochen ankommt. Was passieren sollte, damit im letzten Teil dieser Pandemie so wenige Menschen erkranken, sterben und von Covid-19 gezeichnet werden wie möglich. Und sie sollte betonen, dass das Ende des Notstands nahe ist. Dass die Chancen gut stehen, dass im Sommer die meisten Menschen durch eine Impfung immunisiert sind. Dass – wenn nicht noch eine besonders arge Virusmutation auftritt, die den Impfschutz ernsthaft gefährdet – Reisen, Treffen mit den liebsten Freunden und Verwandten wieder unbeschwert möglich sein können.
Das wäre eine wichtige Botschaft an die Menschen, denen der halbherzige Dauer-Lockdown Kraft und Zukunftsmut raubt. Und an Ministerpräsidenten, die von Entspannung auf Intensivstationen faseln.
US-Wahl und die Spaltung der Gesellschaft: Was Deutschland daraus lernen sollte
Seit der US-Wahl steht fest: Donald Trump wird erneut ins Amt des US-Präsidenten zurückkehren. Spannend war das Rennen ums Weiße Haus allemal. Doch es war ein Wahlkampf, der von starker Polarisierung und emotionaler Abneigung zwischen den beiden politischen Lagern geprägt war. Er hat die gesellschaftlichen Gräben in den Vereinigten Staaten weiter vertieft.