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Shitstorm: Warum das Twitter-Aus von Lilly Blaudszun uns alle angeht

Lilly Blaudszun, Nachwuchspolitikerin der SPD.
Lilly Blaudszun, Nachwuchspolitikerin der SPD. Bild: ZB / Jens Büttner
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Selbstgerechter Shitstorm: Warum das Twitter-Aus von Lilly Blaudszun uns alle angeht

13.08.2020, 15:5413.08.2020, 22:43
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Kennt ihr Twitter-Deutschland? Nein? Nicht so schlimm.

Twitter-Deutschland ist ein Ort, den die meisten Menschen nie oder fast nie besuchen: Nur 2,8 Millionen Personen nutzen Twitter hierzulande mindestens einmal pro Woche, bei Facebook und YouTube sind es fast zehnmal so viel. Ich bin ein Bewohner von Twitter-Deutschland, ich bin täglich dort. Manchmal ist dieser Ort wie eine großartige Universität: zum Beispiel, wenn Juristinnen oder Historiker, Sprachwissenschaftler oder Politologinnen hier ihr Fachwissen – in kompakten 280-Zeichen-Happen, in Threads aneinandergereiht – aufschreiben und man gar nicht mehr aufhören will mit dem Lesen.

Oft aber ist Twitter-Deutschland auch anstrengend bis ungemütlich. Am schlimmsten sind die rassistischen, menschenfeindlichen Hetzer, die sich hier tummeln – und die oft viel zu lange wüten dürfen, bis Twitter sie verbannt.

Aber es gibt auch viel weniger gefährliche Mitzwitscherer, die einem Twitter-Deutschland verleiden können. Selbstgerechte Schreihälse, die oft viel Meinung und erstaunlich wenig Ahnung haben. Am Dienstag haben solche Schreihälse die SPD-Nachwuchspolitikerin Lilly Blaudszun von Twitter-weggeekelt. Und das ist eine Geschichte, die auch für Menschen wichtig ist, die nie in Twitter-Deutschland sind.

Was passiert ist

Was passiert ist: Lilly Blaudszun, Jahrgang 2001, Mitglied der SPD und deren Nachwuchsorganisation Jusos, ist eine der bekanntesten Nachwuchspolitikerinnen Deutschlands. Auf TikTok hat die Studentin 2400 Abonnenten, auf Instagram über 14.000, auf Twitter waren es über 27.000 Follower. "Spiegel", "Zeit" und "Welt" haben Porträts über sie geschrieben. Blaudszun wird "Politik-Influencerin" genannt, weil sie ein bemerkenswertes Talent dafür hat, politische Inhalte und Diskussionen auf Social Media zu transportieren.

In den vergangenen Tagen wurde Blaudszun gleich mehrfach heftig kritisiert:

  • Zuerst, weil sie auf Instagram Werbung für einen Laptop machte (die Erlöse daraus hat sie nach eigenen Angaben gespendet, den Laptop verschenkt und die Spendenquittung veröffentlicht)
  • Dann, weil sie ein Foto von sich gepostet hat, in dem sie auf einer Luftmatratze im Pool lag (ja, über so etwas kann sich ein Teil von Twitter-Deutschland auch noch im Jahr 2020 aufregen)
  • Und schließlich, weil Blaudszun, bekennende SPD-Linke, sich hinter den frisch nominierten Kanzlerkandidaten Olaf Scholz stellte (der bei sehr links denkenden Menschen als konservativ verrufen ist).

Der dann gegen Blaudszun losgebrochene Shitstorm des linken "Empöriums" (Zitat Marie von den Benken in ihrer Kolumne für die „Welt“) war Blaudszun anscheinend zu viel, sie löschte ihren Twitter-Account. Dass sie grundsätzlich in der Lage ist, Kritik auszuhalten, hatte sie zuvor mehrere Jahre auf Twitter bewiesen.

Warum Lilly Blaudszuns Verschwinden von Twitter ein Problem ist

Wie gesagt: Twitter-Deutschland ist nicht repräsentativ für die deutsche Gesellschaft. Es ist ein Ort, an dem sich überdurchschnittlich viele Journalisten, Aktivistinnen und sonstige Politik-Nerds, Politikerinnen und Wissenschaftler tummeln. Aber es ist eben auch ein Ort, der viel beitragen kann zum Gedankenaustausch, zum Meinungsstreit. Und es ist deshalb schade, wenn eine spannende Nachwuchspolitikerin wie Lilly Blaudszun zumindest vorerst diesen Ort meidet.

Der Fall ist zweitens auch außerhalb von Twitter-Deutschland wichtig, weil sich in ihm eine problematische Haltung gezeigt hat. Eine Haltung, die sich in politischen Diskussionen auf sozialen Netzwerken offenbart, aber auch an Kneipen- und Küchentischen und in Parlamenten: Selbstgerechtigkeit. Selbstgerecht ist, wer unfähig zur Selbstkritik ist, zumindest bei manchen Themen.

Wer selbstgerecht ist, tut sich sehr schwer mit Widerspruch. Sie oder er hat zum einen Probleme, Meinungen, die von der eigenen abweichen, als gleichberechtigt anzusehen. Für Linke, die sich so verhalten, ist Lilly Blaudszun nicht mehr eine Sozialdemokratin, die eine andere, legitime Meinung zu Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat. Sondern eine, die gar nicht mehr links sein kann, weil ihre Haltung zu Scholz falsch sein muss.

Zum anderen tun sich Selbstgerechte schwer damit, vermeintliche oder echte Widersprüchlichkeiten zu akzeptieren, die zum Leben jedes Menschen gehören. Und so verliert Lilly Blaudszun in der Weltsicht linker Selbstgerechter das Recht aufs Linkssein, wenn sie auf ihrem Instagram-Profil eine bezahlte Werbebotschaft postet und ein Schwimmbeckenfoto von sich selbst veröffentlicht.

Selbstgerechtigkeit ist kein rein linkes Phänomen. Es gibt konservative Selbstgerechtigkeit, die sich zum Beispiel in der realitätsfremden Ansicht zeigt, Linksextremismus sei in Deutschland genauso gefährlich wie Rechtsextremismus. Es gibt liberale Selbstgerechtigkeit – ein schönes Beispiel sind alle, die reflexhaft "Planwirtschaft" und "DDR" schreien, wenn jemand irgendwo mehr staatliche Beteiligung fordert.

Selbstgerechtigkeit führt oft dazu, dass Andersdenkende nicht mehr als Menschen gesehen werden, mit denen man demokratisch streitet – sondern als Gegner oder sogar Feinde, denen man Abneigung bis Hass entgegengeifert. Und das ist erstens schlimm für diejenigen, die ins Visier von Selbstgerechten geraten. Und zweitens schädlich für die Demokratie. Denn die funktioniert nur, wenn die meisten Menschen dazu bereit sind, andere, auch völlig andere Meinungen als die eigenen auszuhalten – solange sie nicht strafbar sind oder Persönlichkeitsrechte verletzen.

Was wir daraus lernen können

Wie macht man es besser als die Selbstgerechten? Wer zwei einfachen Grundsätzen folgt – und immer wieder prüft, ob er sie einhält – der kann eine Art Grundimmunität gegen Selbstgerechtigkeit entwickeln.

Grundsatz eins: Widersprüche aushalten

Unfehlbar ist auf dieser Welt nur der Papst (zumindest, wenn man der bis heute herrschenden Meinung der katholischen Kirche folgt). Alle Erdenbürger machen erstens Fehler, meist sogar recht viele. Und zweitens darf jede und jeder politische Forderungen stellen, auch radikale – ohne deshalb wie ein Heiliger oder Asket zu leben. Ja, auch wer sich für Klimaschutz engagiert, darf mit dem Flugzeug verreisen und Fleisch essen. Ja, auch wer wie Lilly Blaudszun für demokratischen Sozialismus eintritt, darf Werbung auf Instagram machen und auf einer Luftmatratze im Swimming Pool chillen – links zu sein sollte nicht bedeuten, spaßfrei leben zu wollen.

Problematisch wird es erst dann, wenn die handelnde Person erhebliche Macht hat – und mit ihrem Verhalten die eigene politische Haltung vollkommen unglaubwürdig macht. Wenn etwa ein Politiker, der für Steuergerechtigkeit eintritt, selbst Privatkonten auf dem Cayman Islands besitzt. Oder eine Bildungspolitikerin die eigene Doktorarbeit abgeschrieben hat.

Grundsatz zwei: Inhalte angreifen, nicht Personen

Demokratischer Streit, auch harter, ist lebenswichtig für eine freie Gesellschaft. Jeder darf schreiben, dass er die Meinung eines Anderen für falsch, unsinnig, schädlich hält. Und der oder die Andere muss das aushalten. Aber dieser Streit funktioniert nur dann, wenn er respektvoll abläuft. Meinungen und Inhalte kann man jederzeit hart angreifen – Personen, die einfach nur anderer Meinung als man selbst sind, haben Respekt verdient. Man kann Olaf Scholz für den völlig falschen SPD-Kanzlerkandidaten halten, für einen Neoliberalen oder Konservativen, für den Verantwortlichen für die Polizeigewalt während des G20-Gipfels in Hamburg 2017. Man sollte ihm und den Menschen, die seine Kandidatur unterstützen, trotzdem ein Mindestmaß an Respekt entgegenbringen.

Wer respektvoll streitet, ohne selbstgerecht zu sein, der lernt im besten Fall am Ende etwas dazu. Und in allen anderen Fällen hat sie oder er unsere Demokratie nach vorne gebracht, zumindest um ein paar Millimeter.

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