Am Ende wurde der Druck zu groß. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) war ihm nicht gewachsen – und ist zurückgetreten.
Spiegel hat Fehler gemacht – in der Zeit, in der sie gleichzeitig Familien- und Umweltministerin in Rheinland-Pfalz war. Das ist klar.
Trotzdem steckt hinter ihrem Rücktritt auch ein Problem, das die ganze Gesellschaft betrifft.
Der erste Dominostein zum Karriereende der Ministerin war eine SMS, die vermuten ließ, dass Spiegel ihr eigenes Image wichtiger war als das Leid im Ahrtal. Dann der Frankreichurlaub, den Spiegel zehn Tage nach der verheerenden Flut mit ihrer Familie antrat. Und die Ungenauigkeiten – oder wie es ihr andere unterstellen, Lügen – bezüglich der Teilnahme an Kabinettssitzungen während ihres Urlaubs.
Als ehemalige Umweltministerin von Rheinland-Pfalz hat Spiegel im März bereits vor dem Untersuchungsausschuss des dortigen Landtags ausgesagt, hat Versäumnisse von sich gewiesen. Nicht nur Spiegel muss sich vor dem Ausschuss verantworten, sondern etliche Ministerinnen und Landräte aus Rheinland-Pfalz. Am Ende werden die Ausschussmitglieder entscheiden, welches Glied der Kette versagt hat.
Und das ist auch richtig so.
Trotzdem hat Spiegel schon jetzt ihren Posten geräumt.
Sie möchte so "Schaden vom Amt" abwenden, da dieses vor großen politischen Herausforderungen stehe, schreibt Spiegel in einer Pressemitteilung. Von eigenen Fehlern steht da nichts.
Dass Spiegel den Rückzug antritt, liegt vor allem an der Art und Weise, wie Opposition und Öffentlichkeit mit der Familienministerin umgegangen sind. Dieser Umgang zeigt, wie weit wir als Gesellschaft entfernt sind von der hochgejubelten Gleichberechtigung. Und wie wenig wir bereit sind, Spitzenpolitikerinnen moderne Lebensrealitäten zuzugestehen.
Denn Spiegel musste sich in den Stunden vor ihrem Rücktritt viel anhören, weil sie nach der Flut in den Urlaub gefahren war. Oder wie es die "Bild" ausdrückt: "Als die Menschen an der Ahr im Schlamm nach Toten suchten, reiste sie nach Frankreich."
In einem Statement am Sonntagabend hat Spiegel sich dann erklärt. Hat sich sozusagen nackig gemacht und ihre familiäre Situation dargelegt. Spiegel ist eine junge Mutter. Sie hat vier Kinder, drei davon schulpflichtig.
Urlaub, wie ihn viele Familien machen, ist also von den Schulferien abhängig. Und er steht auch Ministerinnen und Ministern zu. Erst recht, wenn sie nicht nur für sich selbst und ihr Land verantwortlich sind, sondern eben auch für kleine Kinder. Denn die haben auch dann ein Recht auf ihre Mama, wenn sie Spitzenpolitikerin ist.
Und anders als viele Männer in Spitzenpositionen hat Spiegel die Aufgabe angenommen, auch für ihre Familie da zu sein. Damit es ihren Kindern besser geht als zum Beispiel Walter Kohl, dem Sohn des ehemaligen Kanzlers aus der Pfalz: Helmut Kohl. Walter schreibt in seinem Buch über die Beziehung zu seinem Vater: "Seine wahre Familie heißt CDU, nicht Kohl. (...) Wir liefen auf seiner politischen Bühne mit, als Teil des Bühnenbildes, aber ohne tragende Rolle."
Am Tag nach der Flut im Juli 2021 besuchte die damalige rheinland-pfälzische Umweltministerin Spiegel die Hochwasserregionen. Machte sich ein Bild der Lage. Versprach schnelle und unbürokratische Hilfe. Brachte gemeinsam mit dem Rest des rheinland-pfälzischen Kabinetts ein 50-Millionen-Euro-Sofortpaket auf den Weg.
Zu der Zeit, in der Spiegel im Urlaub war, zehn Tage nach der Katastrophe, hätte sie nicht mehr viel ausrichten können im Ahrtal. Auch Schlamm schippen und kaputte Möbel verräumen hätte ihr im Nachgang als Inszenierung ausgelegt werden können. Als Wahlkampf. Es waren die heißen Wochen vor der Bundestagswahl. Es war die Zeit, in der Armin Laschet (CDU) durch einen unüberlegten und unangebrachten Lacher im Flutgebiet die Wahl quasi im Vorfeld verlor.
Natürlich war Spiegels Fahrt in den Familienurlaub ein unglückliches Signal, während Menschen um ihre Existenz bangten und um ihre Toten trauerten. Doch es ist auch menschlich. Denn neben all dem Leid in der Welt muss auch eine junge Mutter das Recht darauf haben, sich um ihre eigene Familie zu kümmern.
Auch dann, wenn eine riesige Katastrophe in die Schulferien fällt. Erst recht, wenn die Mama und Ministerin auch am Strand erreichbar bleibt.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der propagiert wird, dass das Geschlecht keine Auswirkungen auf die Chancen hat. In der Frauen nicht mehr nicht eingestellt werden sollten, nur weil die Gefahr besteht, dass sie schwanger werden. Eine Gesellschaft, in der die Mehrheit so tut, als seien wir ach so progressiv.
Entscheidet sich dann aber eine Frau, weder auf Familie noch auf Karriere verzichten zu wollen, ist das ein Problem.
Anne Spiegel ist nicht die erste Frau, die das erleben muss. Und sie wird leider nicht die Letzte sein. Denn der Fortschritt der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist mehr Schein als Sein.
Das musste Annalena Baerbock erleben. Als sie im vergangenen Jahr für das Kanzlerinnenamt kandidierte, war die scheinbar wichtigste aller Fragen, wie sie sich vorstelle, Familie und Job unter einen Hut zu bringen. Politikerinnen wie Sawsan Chebli (SPD) sprangen der heutigen Außenministerin damals zur Seite:
Die ehemalige Parteivorsitzende der SPD, Andrea Nahles, ist kurz nach der Entbindung ihrer Tochter wieder arbeiten gegangen. Damals, im Jahr 2010, war sie noch Generalsekretärin der SPD und hatte Sorge, dass eine längere Babypause die Karriere kosten könnte. Auch die ehemalige Verteidigungsministerin und siebenfache Mutter Ursula von der Leyen (CDU) kennt die bohrende Frage: Wie nur Kinder und Karriere unter einen Hut bringen?
Für Spiegel scheint der Spagat im vergangenen Sommer zu weit geworden zu sein: Das unter einen Hut Bringen war nicht mehr möglich, sie musste sich entscheiden. Das hat sie: erst fürs Ahrtal, zehn Tage später für ihre Familie.
Monate später, am Sonntagabend vor ihrem Rücktritt, zeigte Spiegel sich in ihrem Statement sehr intim:
Wir müssen akzeptieren lernen, dass sich Mütter und Ehefrauen in Spitzenpositionen manchmal für ihre Familie entscheiden. Zumindest, wenn es uns als Gesellschaft wichtig ist – und das sollte es sein – dass Frauen solche Positionen übernehmen. Immerhin sind bis heute nur 20 Prozent der Vorstände in Dax-Konzernen weiblich. Und vor allem müssen wir aufhören, Politikerinnen wie die Sau durchs Dorf zu treiben, nur weil sie Menschen sind.
Auch Mütter dürfen kritisiert werden. Das müssen sie sogar, wenn sie Fehler machen. Es bleibt aber die Frage nach der Qualität der Kritik. Denn sicherlich wäre Anne Spiegel auch kritisiert worden, würde sie Arne heißen. Doch ist es wahrscheinlich, dass die Gesellschaft auf ein Statement eines männlichen Ministers, der seine private Odyssee teilt, anders reagiert hätte. Statt des Spotts und der Aberkennung von Kompetenz würde möglicherweise die Nahbarkeit gelobt. Oder die rührige Liebe zur eigenen Familie.
Ja, Spiegel hat Fehler gemacht. Und sie hat Konsequenzen gezogen. Aber mit Blick auf jene, die am lautesten nach einem Rücktritt krakeelt haben, bleibt der fade Nachgeschmack, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird.