Zwei Feststellungen ganz am Anfang.
Erstens: Ich halte Dieter Nuhr für einen schlechten Kabarettisten, seine umstrittenen Witzchen über den Virologen Christian Drosten und Bundeskanzlerin Angela Merkel finde ich pubertär und geschmacklos, seine Äußerungen über den Islam ignorant, seinen Tweet zu Auftritten während der bisher schwersten Phase der Corona-Krise gefährlich (auch, wenn er sich später entschuldigt hat).
Zweitens: Ich halte es für falsch, dass die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) ein Audio-Statement von ihm zur Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft auf öffentlichen Druck hin von ihrer Website entfernt hat.
Zum Verständnis: Dabei geht es um ein Statement Nuhrs, das die DFG am vergangenen Donnerstag verbreitet hat. Es ist Teil der Kampagne #fürdaswissen, in der Politiker, Wissenschaftler und sonstige Prominente im Namen der DFG für die Wissenschaft werben. Nuhr warb in seinem Beitrag dafür, die Wissenschaft nicht als Religion zu verstehen, der man blind zu folgen hat – sondern anzuerkennen, dass Wissenschaftler angesichts neuer Fakten oft ihre Meinung ändern und dass gerade deshalb Forschung so wichtig für die Gesellschaft ist.
Kurz, nachdem es online gegangen war, begannen Twitter-User sich darüber zu empören, dass ausgerechnet Nuhr mit einem Statement auf der DFG-Website vorkommt. Und wenige Stunden, nachdem sie online gegangen war, nahm die DFG die Audiobotschaft wegen dieser Kritik wieder von der Seite. Nur auf Twitter ist sie weiterhin zu hören.
Eigentlich sollte es normal sein, dass man einerseits die Meinung, die persönliche Haltung, den Humor öffentlicher Personen ablehnt, Kritik daran übt – und es andererseits aushält, dass diese Personen für eine gute Sache Werbung machen. Viele Menschen aber halten das aber offenbar für einen unvereinbaren Widerspruch. Sie meinen: Weil Dieter Nuhr sich skeptisch über die Gefährlichkeit des Coronavirus geäußert und eine Zote über Drosten und Merkel gerissen hat, darf er nicht mehr auf der Website der DFG für die Wissenschaft werben. Und diese absolute Ablehnung der Person Dieter Nuhr ist ein großes Problem.
Denn wer davon, dass er die Haltung einer Person ablehnt, darauf schließt, dass diese Person kein positives Statement auf der Website eines (fast ausschließlich staatlich finanzierten) Vereins bekommen darf, der macht sich die Welt zu einfach. Das heißt: Sie oder er läuft akut Gefahr, Menschen nur noch in zwei geistige Schubladen zu stecken – die der Guten und die der Bösen, ohne Alternativen dazwischen.
Es ist schädlich für die gesamte Gesellschaft, wenn zu viele Menschen, die sich selbst für tolerant und progressiv halten, ihr Gut-versus-Böse-Weltbild aufrechterhalten: ein Weltbild zum Beispiel, in dem Polizistinnen und Polizisten, Soldatinnen und Soldaten immer böse oder zumindest verdächtig sind – und wer für wünschenswerte Anliegen wie Antifaschismus oder Klimaschutz auf die Straße geht, immer gut.
Dass die Wahrheit komplexer, manchmal bunter und manchmal düsterer ist, das belegen zum Beispiel die schockierenden Bilder eines Steinwurfs auf ein Polizeiauto durch mutmaßlich linksextreme Demonstranten in Berlin am Wochenende auf der einen Seite – und die positiven Erfahrungsberichte, die Soldatinnen und Soldaten mit Migrationsgeschichte kürzlich mit den Hörern des Podcasts "Sicherheitshalber" geteilt haben, auf der anderen.
Was die Angelegenheit kompliziert macht: Auch Dieter Nuhr selbst macht es sich offenbar deutlich zu einfach. Das beweisen seine teils absurd überzogenen Reaktionen auf die Entfernung seines Statements von der DFG-Website. In einem Facebook-Post schreibt Nuhr unter anderem:
Das ist Quatsch. Die Entfernung von Nuhrs Beitrag von der DFG-Website mit der McCarthy-Ära in den USA zu vergleichen – während derer ein einflussreicher rechter Senator dafür sorgte, dass kritische Autoren, Journalisten, oder Künstler wegen angeblicher Nähe zum Kommunismus ihre Lebensgrundlage verloren und teils ins Gefängnis wanderten – ist eine krasse Selbstüberhöhung von jemandem, der unter anderem eine ziemlich populäre Comedy-Show im öffentlich-rechtlichen Fernsehen moderiert. Noch dämlicher ist Nuhrs Aussage zu einer angeblichen "Mechanik des Pogroms" gegen ihn, inklusive Nazivergleiche in einer Antwort unter seinem Post:
Und zur Wahrheit in der Diskussion um Dieter Nuhr gehört eben auch: Viele Menschen, die eine angebliche "Cancel Culture" und Intoleranz gegen die eigene Meinung beklagen, halten es einfach nicht aus, dass die Gesellschaft sich weiterbewegt hat, während sie selbst stehen geblieben sind. Dass es ein etwa großer Teil der Menschen in Deutschland heute – anders als vor 20, 30 Jahren – zum Glück nicht mehr hinnimmt, wenn bestimmte Gruppen mit rassistischen Ausdrücken bezeichnet oder Politikerinnen mit sexistischen Bemerkungen abgekanzelt werden.
Trotz alledem: Dieter Nuhr mag dünnhäutig sein, sich selbst als Opfer inszenieren und die Welt zu banal in Gut und Böse unterteilen. Aber er ist eben kein Rassist oder Menschenfeind. Er ist ein streitbarer, wertkonservativer Künstler, an dem eine kritische Öffentlichkeit sich reiben kann, manchmal vielleicht auch reiben muss. Aber es gibt bisher keine Anzeichen dafür, dass Nuhr ein antidemokratischer Extremist zu sein scheint. Und deswegen darf die DFG natürlich ein Statement von ihm auf ihrer Website veröffentlichen – vor allem, wenn es, wie in diesem Fall, inhaltlich sinnvoll ist.
Die DFG hat außerdem dem wichtigen Anliegen der Aktion #fürdaswissen – der Werbung für wissenschaftliche Arbeit – geschadet, indem sie Nuhrs Statement gelöscht hat. Denn mit seinem Plädoyer für die Wissenschaft hätte Nuhr vermutlich ein Publikum erreicht, bei dem andere Kampagnenteilnehmer wie der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar und diverse Bundestagsabgeordnete es deutlich schwerer hätten: nämlich konservativere, Fortschritts-skeptische Bürger.
Ein Publikum übrigens, das Menschen, die deutlich weiter rechts stehen als Dieter Nuhr, seit Langem kräftig umwerben – wie die Pro-Nuhr-Statements von AfD-Bundeschef Jörg Meuthen und auf der rechten Website "Tichys Einblick" zeigen, die nach der Entfernung von dessen Beitrag online gegangen sind. Und dass die DFG sich durch einen Shitstorm dazu hat treiben lassen, Nuhrs Beitrag zu löschen, wird dieses Publikum eher in ihrer Ansicht bestärken: der Ansicht, dass Menschen wie Dieter Nuhr nicht mehr toleriert würden, dass gegen ihn eben doch eine linksgrüne "Cancel Culture" wüte.
Was lässt sich lernen aus dem Schlamassel? Mehr Gelassenheit gegenüber Menschen wie Dieter Nuhr wäre für viele ein guter Anfang. Die Meinung Nuhrs und anderer Ähnlichgesinnter mag vielen Menschen gegen den Strich gehen. Aber solange keine ernstzunehmenden Zweifel daran bestehen, dass ihre Vertreter auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, müssen Andersdenkende das eben ertragen. Ja, auch Stuss und Schwachsinn sind von der Meinungsfreiheit gedeckt – solange sie keine Straftatbestände erfüllen. Andere Meinungen als die eigene auszuhalten und die Menschen, die sie äußern, zu respektieren, das gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für ein gutes Zusammenleben in einer Demokratie.
Anders gesagt: mehr Vielfalt im Kopf statt Gut-und-Böse-Denken, das wär's.
Die Energie, die Menschen regelmäßig darin stecken, sich an Dieter Nuhr abzuarbeiten, wäre besser im demokratischen Kampf gegen diejenigen investiert, die wirklich gefährlich sind für unsere Demokratie: die Rassisten, Antisemiten und sonstigen Menschenfeinde, die andere mit ihren Worten und Taten bedrohen. Davon gibt es ja leider auch viele.