Geehrter Herr Bundespräsident, geehrter Herr Steinmeier,
dies, das mag für Medienportale unüblich sein, ist ein offener Brief. Er spiegelt die Meinung einer jungen Politikredakteurin wider. Er ist der Versuch, die Meinung vieler junger Menschen, die Hoffnung, die wir alle auf Sie setzen, abzubilden. Herr Bundespräsident, Sie bekleiden das höchste Amt, das es in der Bundesrepublik gibt, Sie haben Macht – auch, wenn es keine operative ist, Sie fast keinen Einfluss auf die wichtigsten Entscheidungen haben.
Sie haben die Macht der Worte. Sie haben Einfluss, Sie sind höchst angesehen in der deutschen Gesellschaft.
Dieser Brief richtet sich an Sie, um Ihnen noch einmal zu verdeutlichen: Die jungen Menschen leiden. Sie haben Angst und fühlen sich verloren, im Stich gelassen.
Nach zwei Jahren Pandemie sind Jugendliche und junge Erwachsene immer noch die Vergessenen. Welche verheerenden Auswirkungen das hat, zeigt eine repräsentative Studie aus dem November 2021. Dafür wurden 14- bis 29-Jährige zwischen dem 14. und 22. Oktober zu ihren Sorgen und Wünschen befragt. Die Ergebnisse sind nicht überraschend, aber trotzdem furchtbar: 40 Prozent der Befragten gaben an, dass die Corona-Krise ihre psychische Gesundheit verschlechtere, 37 Prozent spüren einen Kontrollverlust bei ihrer Alltagsgestaltung, in ihren persönlichen Beziehungen und im Schul- und Berufsleben.
Bei Kindern nehmen psychosomatische Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen oder Schlafstörungen zu. Laut einer internationalen Umfrage des Uno-Kinderhilfswerks Unicef (Sommer 2021), dessen Schirmherrin in Deutschland Ihre Frau Elke Büdenbender ist, fühlen sich junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren häufig deprimiert oder können sich nicht mehr dazu aufraffen, etwas zu unternehmen.
Aktuellere Ereignisse zeigen zudem, wie groß die Angst unter jungen Menschen ist. Manche Schülerinnen und Schüler fühlen sich so vergessen, dass sie mit einem offenen Brief, dem Hashtag #WirWerdenLaut und einer Petition auf sich und ihre schwierige Situation in den Schulen aufmerksam machen, sogar mit Streiks drohen, wenn ihnen nicht die Möglichkeit gegeben wird, auch von Zuhause aus dem Unterricht beiwohnen zu können.
Seien Sie für diese Menschen da, helfen Sie ihnen.
Und es sind auch nicht nur die Allerjüngsten, die leiden. Menschen, die gerade in der Ausbildung sind, Menschen, die neu in ihrem Beruf sind, Menschen wie die Autorin dieses offenen Briefes von watson, die zwar schon länger arbeiten, aber mit 31 Jahren doch eigentlich eine der schönsten Zeiten in ihrem Leben verbringen sollten.
Stattdessen sitzen viele dieser Menschen daheim, weil sie Angst vor einer Infektion haben oder aus Solidarität versuchen, Menschenmengen zu meiden. Wo doch eigentlich das Wochenende vollgepackt sein sollte mit Erlebnissen und Kneipen-, Bar- oder Clubbesuchen. Sie wollen, dass diese Krise endlich vorbei ist. Sie wollen ihr Leben zurück. Die wichtigsten Jahre darin sind teilweise schon verloren.
Natürlich ist es nicht Ihre Aufgabe, Herr Bundespräsident, die Gesetze in diesem Land zu schreiben. Natürlich sind nicht Sie es, der für die Schulbildung und Sicherheit der Menschen zuständig ist.
Aber Sie haben einen unglaublichen Einfluss sowohl auf die Entscheidungsträger in der Politik, also die Bundes- wie auch die Landesregierungen, als auch auf das Volk.
Und das allein mit Ihren Worten. Nutzen Sie diese Macht.
Das haben Sie 2018 bereits getan, als sich die SPD sträubte, erneut in eine große Koalition mit CDU und CSU zu gehen. Man mag von der ehemaligen Regierung halten, was man will. Fakt ist: Es waren auch Ihre Worte, die die beiden Parteien wieder zusammengebracht haben.
Wie viel Ihnen die Jugend bedeutet, haben Sie bereits durch viele Reden und auch Veranstaltungen und Programme deutlich gemacht. Etwa, als Sie junge Menschen zu sich ins Schloss Bellevue eingeladen haben, damit Sie (symbolisch) Ihren Amtssitz für einen Tag übernehmen. Auf mich wirkt Ihr Engagement authentisch, ich glaube Ihnen.
Sie schauen hin – aber sehen Sie auch? Sie haben offene Ohren – aber hören Sie auch? Sie appellieren – aber folgen dann auch Taten?
Ein praktisches Beispiel ist das unfassbare Kuddelmuddel um eine einrichtungsbezogene Impfpflicht – und die dadurch mögliche Torpedierung einer allgemeinen Impfpflicht.
Da prescht ein von sich selbst viel zu überzeugter Macho-Ministerpräsident (Bayern) vor und will in seinem Freistaat die längst beschlossene Impfpflicht für Pflegekräfte nicht umsetzen. Wie demokratiegefährdend diese Handlung ist, haben zig Expertinnen und Experten bereits erklärt.
Dass eine allgemeine Impfpflicht nicht durchgesetzt werden kann, wenn die einrichtungsbezogene krachend scheitert, ist mehr als nur wahrscheinlich.
Sie haben den Schutz der Demokratie zu ihrer persönlichen Aufgabe als Bundespräsident gemacht. Hier, in diesem Fiasko einzuschreiten, wäre ein Zeichen dafür, dass Sie das auch ernst meinen.
Und es wäre ein Zeichen an die Kinder und Jugendlichen, die zum größten Teil nämlich ungeimpft sind und deshalb mit das größte Risiko tragen.
Um die Dinge in diesem konkreten Fall beim Namen zu nennen: Rufen Sie Markus Söder zur Vernunft auf. Er spaltet, er macht Parteipolitik auf dem Rücken von Menschenleben. Laden Sie ihn zu sich ins Schloss Bellevue ein, zeigen Sie den Deutschen, dass Sie sich seinem Drang nach Macht mit Ihrer eigenen entgegenstellen.
Wir wissen alle, dass eine Impfpflicht diese aktuelle Welle nicht brechen wird. Aber wir wissen auch, dass – sollte eine neue Welle kommen – diese dann eben auch nicht mehr aufgehalten werden kann, wenn bis dahin nichts passiert. Warum reagiert die Politik nur? Warum geht sie nicht aktiv vor? Diese Fragen sollten Sie einem Herrn Söder (CSU) stellen, diese Fragen sollten Sie aber auch Bundeskanzler Olaf Scholz, Ihrem alten SPD-Weggefährten, stellen.
Sie setzen sich viel und gern ein, das wissen wir, das sehen wir, das spüren wir.
Um demokratische Brücken zu bauen, suchten Sie in der Vergangenheit immer wieder das Gespräch, oft nicht einmal besonders medienwirksam, was sehr dafür spricht, wie ernst Sie es wirklich meinen.
Regelmäßig veranstalteten Sie Ihre "Kaffeetafel" und diskutierten darin mit Menschen unterschiedlicher Meinung und Herkunft. Als die Pandemie persönliche Treffen schwierig machte, haben Sie digitale Formate begleitet, Sie sprachen mit Impfgegnerinnen, Lehrern, Pflegekräften und Ärztinnen.
Als Sie bekannt gaben, dass Sie wieder für dieses ehrenvolle Amt, das Sie bekleiden, kandidieren wollten, da sagten Sie, Sie wollten auch weiterhin Brücken bauen: Nach der Corona-Pandemie gehe es auch um den Kampf gegen den Klimawandel. Ein weiterer Punkt, der den Jugendlichen Sorge bereitet. Sie haben solche Angst vor Ihrer Zukunft, dass sie seit Jahren freitags demonstrieren.
Es gibt junge Menschen hier im Land, die in den Hungerstreik gingen für das Ziel, die CO2-Bilanz hier im Land politisch endlich auf das absolute Minimum zu drücken. Momentan kleben sich immer wieder Leute dieser Gruppe – "Aufstand der letzten Generation" – auf Autobahn-Ausfahrten fest, um auf das Thema aufmerksam zu machen.
Die politische Richtung gibt ein Bundespräsident nicht vor, das haben Sie selbst gesagt und da haben Sie natürlich Recht. Sie haben in den vergangenen fünf Jahren dennoch viel erreicht, sie haben deutliche Worte gefunden gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Sie haben auf der Verleihung des deutschen Umweltpreises 2019 in Mannheim so deutliche Worte gefunden und sich in Ihrer Rede sogar mit Fridays For Future solidarisiert.
Damals sagten Sie, selten habe der Schutz von Umwelt, Klima und Artenvielfalt die Gesellschaft so bewegt wie zu dieser Zeit. "Das verdanken wir vor allem den Hunderttausenden jungen Menschen, die Freitag um Freitag für ihre politischen Forderungen auf die Straße gehen." Sie sagten außerdem: "Die jungen Menschen haben der Klima- und Umweltpolitik weltweit einen gewaltigen Schub versetzt. Und sie haben uns in Deutschland daran erinnert, welcher Elan, welcher Ehrgeiz in diesem Land stecken kann."
Wissen Sie, wie viel Kraft Sie den Menschen mit Ihren Worten geben?
Klimaaktivistinnen und -aktivisten sind nur ein Teil der vielen jungen Menschen, die sich ungehört fühlen. Und wenn wir mal ganz ehrlich sind, auch ungehört sind. Da draußen gibt es Millionen Jugendliche und junge Erwachsene, die ihre Kraft verloren haben. Geben Sie sie ihnen wieder zurück, um wieder in ihren Alltag zurückzukommen, um die Trauer zu überwinden, weil sie geliebte Menschen verloren haben, um für ihre mentale Gesundheit zu kämpfen.
Diese Kraft, Herr Bundespräsident, brauchen wir auch jetzt. In dieser schweren Zeit. Geben Sie sie uns.