Manchmal wird die eigene Ideologie von der Geschichte überholt. Ein solches Erlebnis macht die Partei Die Linke gerade durch.
Denn Russland führt seit 2014 Krieg gegen die Ukraine, durch die Annexion der Krim und über russlandtreue Milizen im Donbass. Seit Montag führt der russische Präsident Wladimir Putin eine weitere Eskalation dieses Kriegs durch. Und weil sich die Linke, in ihrer post-sowjetischen Tradition eher Russland zugeneigt, als eine Anti-Kriegs-Partei definiert, kommt sie nun in Erklärungsnot.
Dass die Genossinnen und Genossen zur Demonstration vor der russischen Botschaft aufrufen und sich selbst Partei-Größen wie Sahra Wagenknecht zu kritischen Statements durchringen, dürfte langjährige Beobachter verwundern.
Krieg ist, wenn "der Westen" schießt – so ähnlich klangen viele geopolitische Analysen aus den Reihen der Linken bisher. Russland wurde in der Regel nur vom Reformerflügel, zu dem etwa Petra Pau und Jan Korte gehören, kritisiert.
Auf der anderen Seite der Partei gab es einen stramm moskautreuen Block, der sich an Überzeugungen aus der Zeit des Kalten Krieges klammerte. Doch nun sagt selbst Sahra Wagenknecht:
Noch bis Montag war in der geopolitischen Welt der Linken alles in Ordnung: Der Westen, in Gestalt der Nato, bedrohe Russland. So geht die alte Deutung, gespeist von den Dynamiken des Kalten Krieges, konserviert in einer bis dato durch nichts zu störenden Ideologie.
Und so rief Sevim Dağdelen, Sprecherin für internationale Politik und Abrüstung der Linken im Bundestag, am vergangenen Freitag von einer Protestbühne in Berlin:
"So funktionieren Informationskriege!" Sie meinte damit die Ankündigung US-amerikanischer Geheimdienste, dass russische Panzer bald in Richtung Ukraine rollten. Dies seien balkenbiegende Lügen gewesen, und damit eine "Gefahr für den Weltfrieden", ergänzte sie.
Nun war die Information des Auslandsgeheimdienstes der Vereinigten Staaten tatsächlich nicht korrekt, allerdings nur auf das Datum bezogen.
Am Montag ordnete Putin die Entsendung von Truppen in die Ostukraine an. Zuvor hatte Moskau die auf ukrainischem Territorium befindlichen „Volksrepubliken Luhansk und Donezk" als unabhängige Staaten anerkannt.
Eine imperialistische Aggression, die auch Sevim Dağdelen und der pro-russische Flügel ihrer Partei nicht mehr wegdiskutieren konnten.
Die Anerkennung sei "völkerrechtswidrig und kann nur verurteilt werden", heißt es in einer gemeinsam mit ihrem Parteifreund Gregor Gysi verfassten Erklärung nun.
Ein wenig milder im Ton als noch am Freitag bei der Anti-CIA-Rede in Berlin, schreiben die beiden Linken weiter: "Wir hätten es gut gefunden, wenn Russland sich weiter an das Minsker Abkommen gehalten hätte."
Von einer "Bedrohung des Weltfriedens" ist zwar nicht die Rede, doch angesichts der intellektuell schmerzhaften 180-Grad-Wende sind dies durchaus deutliche Worte. Eine Interview-Anfrage von watson zu den aktuellen Ereignissen wurde am Dienstag mit Verweis auf Zeitgründe abgelehnt.
Noch etwas deutlicher äußerte sich die Spitze der Linksfraktion im Bundestag am Dienstag:
Dies "verletzt die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine und befördert die Gefahr eines großen Krieges in Europa", erklärten die Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali, sowie die Parteichefinnen Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler.
Auch der naturgemäß radikalere Jugendverband solid schrieb, eine "Expansion der Nato" rechtfertige "keinen Einmarsch in ein souveränes Land bzw. keinen Krieg, unter dem die ukrainische Zivilbevölkerung leidet".
Dass Die Linke in ihrer sowjet-romantischen Ideologie nun auf Panzerketten von der Geschichte überholt wurde, ist zwar Fakt. Fakt ist aber auch, dass die Partei sich dieser Misere stellt.
Damit gibt zumindest die Bundestagsfraktion einen Wink in Richtung "Regierungsfähigkeit", die ihr von politischen Gegnerinnen außenpolitisch oft abgesprochen wird.
Lernt die revolutionsverliebte Linke angesichts militärischer Realitäten nun endlich Laufen?
Zarte Züge einer solchen Dynamik darf man in die Äußerungen der vergangenen achtundvierzig Stunden durchaus hineininterpretieren. Denn die Fähigkeit zu fundamentaler Kurskorrektur trennt die Ideologen von den politisch zurechnungsfähigen Politikerinnen.
Die Spitze der Partei hat vorerst bewiesen, dass sie zu Letzteren gehört. Auch der Bundesverband der Linksjugend hat sich klar positioniert, allerdings mit dem bemerkenswerten Hinweis, dass die einzelnen Landesverbände "nur für sich selbst und nicht für den gesamten Verband" sprächen.
In Berlin etwa fordert die Parteijugend aktuell eine "Zerschlagung der Nato" und spielt damit die alte Melodie einer Welt der Blöcke und Barrikaden, die einander unversöhnlich gegenüberstünden.
Nur der sozialistische Umsturz, so geht der Traum, könne das globale Menschenleid beenden. Das passt zwar gut auf Demonstrationsplakate, aber eher schlecht in einen demokratischen Koalitionsvertrag. Auch deshalb will mit den Linken auf Bundesebene niemand koalieren.
Doch neue Ideen auf hoher Ebene kamen in der Partei schon vor den russischen Aggressionen in der Ukraine auf.
Die beiden Linken-Funktionärinnen Julia Schramm und Jules El-Khatib hatten sich Anfang Januar in einem Interview mit watson Gedanken über die Zukunft der Partei gemacht.
"Ich glaube schon, dass wir um Einzüge in Parlamente kämpfen und uns im Zweifel an Regierungen beteiligen müssen", hatte Julia Schramm, Mitglied im Bundesvorstand, gesagt.
Dass ein solcher Satz von einer im Bundestag vertretenen Partei ausgesprochen werden muss, zeigt die Zerrissenheit der politischen Philosophie in der Linken.
Denn noch gibt es genügend Linke, für die eine Regierungsbeteiligung – und damit die Übernahme realpolitischer Verantwortung – nicht das oberste Ziel ist. Sie verstehen Die Linke als Sammelbecken verschiedenster Bewegungen, mal weniger, mal mehr revolutionär.
Da gibt es die Arbeitsgemeinschaft Cuba Sí, die solidarisch mit dem autoritär regierten Kuba ist. Oder die innerparteiliche trotzkistische Organisation Marx21, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Gemeinsam mit zahlreichen weiteren Strömungen, Flügeln und Verbänden hat sich die Partei in ein Sammelsurium verrannt, das sie zur politischen Handlungsunfähigkeit verdammt.
Wegen dieses einzigartigen Parteicharakters lässt die deutliche und einheitliche Linie zum aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine aufhorchen. Sie könnte der Startschuss sein für eine echte Erneuerung. Für eine Politik ohne Ideologie, dafür mit Aussicht auf echte Mitgestaltung.